Die Gründungsgeschichte der Passionsspiele kam in diesem Sommer mit „Die Pest“ auf die Bühne

Zwischenspiel in Oberammergau

„Des könnt der Jesus sein!“ Die Dame auf dem Vorplatz des Passionstheaters Oberammergau ist aufgeregt. Da lehnt doch tatsächlich der Jesus an einer Säule. Dabei ist es ja noch gar nicht so weit. Erst 2020 wird die Oberammergauer Passion aufgeführt, wie alle zehn Jahre (und zwischendurch ab und an, wenn ein Jubiläum ansteht). Und doch: Das Dorf im Voralpenland bereitet sich vor. An diesem Sommerabend hatte das Vor-Spiel „Die Pest“ Premiere, das erzählt, wie die Oberammergauer 1633 gelobten, das Leiden Christi auf die Bühne zu bringen – und fortan kein Dorfbewohner mehr an der Pest starb. Die Seuche war im Jahr 1633 also der Anlass für die Spiele und damit sie in ein kleines Dorf den Theatervirus gepflanzt.

Überall im Ort wird gebaut und aufgehübscht. Nur die Friseure haben seit dem „Haar- und Barterlass“ am Aschermittwoch weniger zu tun, denn „alle weiblichen und männlichen Mitwirkende und alle Kinder, die an den Passionsspielen teilnehmen“ sind seit 6. März aufgefordert, „die Haare, die Männer auch die Bärte, wachsen zu lassen“. Und die da mitspielen, werden immer mehr. Über 2300 Oberammergauerinnen und Oberammergauer, vom Kleinkind bis zur 96-Jährigen, werden 2020 dabei sein. Mangelnde Professionalität ist dabei nicht das Problem. Die Kinder erhalten kostenlosen Musikunterricht, damit Chor und Orchester mit Nachwuchs versorgt werden können. Die jährlichen Zwischenspiele garantieren, dass die Spielpausen nie zu lange werden.

Mitspielen darf, wer seit 20 Jahren im Ort lebt. Ausnahme: Wer am Tag der Premiere unter 18 ist, kann die Sonderregelung für Kinder in Anspruch nehmen, so kann Christian Stückl auch Flüchtlingskinder integrieren. Die 20-Jahre-Regel sieht der Regisseur, der gleichzeitig Intendant des Münchner Volkstheaters ist, eh kritisch: Integration, das hat doch nichts mit Zeit zu tun, findet er. Er ist sicher, dass eines Tages auch diese Regel – wie bereits die Zugehörigkeit zur katholischen (oder notfalls evangelischen) Religion eines Tages gekippt werden wird. Wer die Voraussetzungen erfüllt und mitmachen will, den muss der Spielleiter unterbringen. Spielrecht ist Spielrecht. Als 1990 drei Frauen per Gerichtsbeschluss das Spielrecht für Verheiratete und für Frauen über 35 erwirkten, mussten kurz vor der Premiere noch 400 Kostüme nachgenäht und eine zusätzliche Volksszene erfunden werden.

Es ist ein Glück für Oberammergau, einen wie Stückl zu haben, der auch bei seiner vierten Passion am Text feilt und die Geschichte vor einem aktuellen gesellschaftlichen Kontext betrachtet. Aus dem einst antisemitischen Spiel, das von Hitler als „reichswichtig“ erklärt wurde, ist ein tolerantes geworden: 1990 war es noch ein kleiner Skandal, als ein Evangelischer den Jesus spielte, inzwischen sind auch Muslime fest ins Spiel integriert. Der zweite Spielleiter, Regisseur Abdullah Kenan Karaca, durfte als Kind erst bei der Passion mitspielen, als Stückl seinem türkischen Vater versichert hatte, er werde seinen Bub schon nicht katholisch machen.

Im Mai lädt Oberammergau 9000 Jugendliche aus aller Welt zu Jugendtagen ein, um das Publikum zu verjüngen. Die jungen Besucher können die Passion zu sehr günstigen Preisen sehen und wählen, ob sie zu Sonderkonditionen im Hotel, im Zelt, bei Jesus auf dem Sofa oder beim Bürgermeister im Kinderzimmer schlafen wollen. Oberammergau befindet sich ohnehin – nicht nur wegen der ständig wachsenden Haare – eineinhalb Jahre im Ausnahmezustand. Studenten unterbrechen ihr Studium für die Passion, Angestellte nehmen ein Sabbatical, um dabei sein zu können. Im September reisen die Hauptdarstellerinnen und -darsteller eine Woche nach Israel, um ein Gefühl für den Ort der Handlung zu bekommen, ab Herbst wird bis zur Premiere im Mai geprobt: unter der Woche abends und am Wochenende. Aber wer wollte sich beschweren: Passion ist Passion.