Szene aus Gil Mehmerts Musical „Wüstenblume” am Theater St.Gallen

Sinnlich und emotional

Bodo Busse, Intendant des Saarländischen Staatstheaters Saarbrücken, über die Entstehung des Genres Musical und die Notwendigkeit, es lebendig zu halten

aus Heft 06/2021 zum Schwerpunkt »Luft nach oben!«

Bodo Busse, Intendant des Saarländischen Staatstheaters Saarbrücken, über die Entstehung des Genres Musical und die Notwendigkeit, es lebendig zu halten

Wenn man am deutschen Stadt- oder Staatstheater Musical auf den Spielplan setzt, sind viele treue Besucher*innen oder spezielle Fan-Communities begeistert, während das Feuilleton gern mal kulturkritisch die Nase rümpft. Unleugbar ist die Tatsache, dass sich am deutschen Stadt- oder Staatstheater das Musical steigender Beliebtheit beim Pu­blikum erfreut und dass man als Theater, sei es nun mit einem klassischen Musical-Evergreen wie „My Fair Lady“ oder einer Rockoper wie „Jesus Christ Superstar“, mit hohen prozentualen und absoluten Auslastungszahlen rechnen kann. Der positive Effekt der Besucherauslastung sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese nur durch einen hohen künstlerischen Aufwand zu erzielen ist.

Überhaupt findet sich Musical als Repertoiresegment zumeist nur in den Musiktheatersparten der deutschsprachigen Mehrspartenhäuser. Nur wenige große Opernhäuser widmen sich dieser Kunstsparte. Die Pflege des Musicals, auch mit deutschen Erst- oder Uraufführungen, sollte aber nicht als populistisches Zugeständnis an einen ohnehin stets im Wandel begriffenen Publikumsgeschmack verstanden werden, sondern als künstlerisch ernsthaftes Engagement für die Weiterentwicklung einer Form des Musiktheaters, die ihren Ursprung zu Beginn des 20. Jahrhunderts im kulturellen Schmelztiegel New York als Import des europäischen Unterhaltungstheaters hatte. Das volkstümliche französische Vaudeville, die Opéra Comique, das Varieté, die englische Music Hall und die Wiener Operette sind auf die Diversität der Einwandererkultur(en) getroffen. Nach dem Ersten Weltkrieg hat sich diese transkulturelle Tendenz durch den Einfluss von Jazz, Blues, Swing und später Rock und Pop im gattungsästhetisch kaum einheitlich fassbaren Musical verdichtet. Aus dem Import wurde ein erfolgreicher weltweiter Export. Immer wandlungsfähig und vielfältig. Diverses Musiktheater in progress.

Theatrale Mechanismen

Die populäre Wirkungsmacht des Musicals hat Ursachen in theatralen Mechanismen, die bis zur französischen Grand Opéra zurückreichen. Auch in „Evita“ oder „Les Misérables“ findet sich die effektvolle Verbindung von politischem Eklat und privatem Konflikt, großem Bühnenaufwand und neuesten technischen Tricks. Hat das meist bürgerliche Opernpublikum von Paris 1849 die bühnentechnische Neuerung des „Lichtbogens“ in Meyerbeers „Le prophète“ bestaunt, so hat das Musicalpublikum später in Stuttgart oder Hamburg die spektakuläre Deus-Ex-Machina-Landung des US-Hubschraubers in „Miss Saigon“ oder den herabstürzenden Kronleuchter in „Phantom of the Opera“ bewundert. Der „Coup de théâtre“ als zugleich bühnentechnische Innovation und musikalischer Effekt reizt die Schau- und Hörlust. In der Grand Opéra fand sich die sich emanzipierende bürgerliche Kultur darin repräsentiert. Auch heute ist das Musical an der ohnehin zunehmend unschärfer werdenden Trennungslinie zwischen Hoch- und Breitenkultur verortet, sollte aber im Produktionsbetrieb der Theater gleichwertig neben allen anderen Bühnenformaten stehen.

Das Musical bietet wie Kino oder Netflix große Sehnsuchtsbilder und ungebrochene Narrative. Der unmittelbare Unterhaltungswert ist durch die visuelle Lust des (Zu-)Schauens und der Identifikation begründet. Dass es gerade die großen Industriestädte New York und London mit ihren hochkomplexen sozialen Strukturen und Arbeitswelten waren, die das Musical hervorgebracht haben, zeigt die sozialpsychologische – und therapeutische Funktion des Genres. Und genau hier setzt die Ablehnung durch die Kulturkritik der Frankfurter Schule an, die bis heute nachwirkt und den schlechten Ruf des Musicals begründet. „Angesichts der auf Hochglanz polierten und in Zellophan verpackten Shows von heute“ beargwöhnt Theodor W. Adorno in dem von Popmusik und Jazz begründeten Musical amerikanischen Ursprungs die Prädominanz einer „wirtschaftlichen Organisationsform“, die mehr an ökonomischer Effizienz orientiert ist, als in Gehalt und ästhetischen Mitteln einen künstlerischen Anspruch zu bewahren. Das ist ebenso unfair wie falsch. In seiner umfassenden Kritik der liberalen Unterhaltungsindus­trie misstraut er beim Musical der „Tuchfühlung mit dem Publikum“. Dass die großen En-suite-Unternehmen knallhart nach einer Kosten-Nutzen-Kalkulation planen und das Musical wie eine Indus­trieware von der Nachfrage abhängig machen, dabei auch unfaire, prekäre Arbeitsbedingungen schaffen, ist völlig unstrittig.

Assoziative Dramaturgie

Neben den neu bearbeiteten großen und populären Stoffen der Bühne („Kiss Me Kate“, „West Side Story“, „Aida“), der Märchen- und Kinderbuchliteratur („Cinderella“, „Zauberer von Oz“) oder des Kinos („Sunset Boulevard“, „Lion King“) wagen sich Werke wie „Hair“, „Jesus Christ Superstar“, „Rent“, oder „Tommy“ als durchkomponierte „Pop-Opern“ mit assoziativer Dramaturgie an Themen wie Krieg, Drogen, Rassismus, Religionsbilder, Aids und sexuellen Missbrauch. Gern wird in der Kritik ein Form-Inhalt-Missverhältnis bis hin zur Kolportage vorgehalten. Doch gerade jene „Tuchfühlung“ durch musikalische Integration populärer Musik macht ein großes Reservoir an Stoffen und wiedererkennbaren Narrativen auf, die nicht zuletzt popkulturell vermittelt die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Orientierung geben oder einen vorübergehenden Eskapismus ermöglichen, der neben kritischer Reflexion, Diskurs und Selbstvergewisserung auch zum profunden Theatererlebnis gehört. Neben den Stammbesuchern eines Theaters, die in ihren Vorstellungsserien auch Musicals angeboten bekommen, finden sich gerade hier Besuchergruppen, die eher zur Gruppe der „Recharger“ und der „Experience Seeker“ gehören – wenn man dem „Visitor Experience Model“ von John H. Falk mit seinen grundsätzlich fünf verschiedenen Besucheridentitäten und ihren unterschiedlichen Erwartungshaltungen an den Kulturbetrieb folgt. Besucheranalysen zeigen, dass der Musicalbesuch oft in Gruppen oder Cliquen organisiert wird, also den Stellenwert eines soziokulturellen Events hat. Man verabredet sich gemeinsam oder in organisierten Communities, die beim Musical oftmals auch reisefreudig sind, zum gemeinsamen Theaterbesuch, um das Erlebte dann auch im kommunikativen Austausch zu bewerten. Musicalfans sind oft auf speziellen Plattformen in den sozialen Medien vernetzt. In einer überregionalen virtuellen Diskursgemeinschaft werden die Produktionen im kritischen Austausch kommunikativ erweitert. Auf diese Weise wird aus dem einzelnen Musicalbesuch ein einzigartiges interaktives, sinnliches und emotionales Bildungserlebnis, das gerade in den großen Mehrspartenhäusern auch Besuchergruppen anzieht, die nach Falks sicherlich recht schematischem Modell weder unbedingt den „Explorers“ noch den „Facilitators“ zuzuordnen sind.

Der rasche Siegeszug des Musicals im Repertoire der deutschen Stadt- oder Staatstheater seit Ende der 1980er-Jahre hängt auch mit der kulturpolitischen Wende der 1970er-Jahre zusammen, als es nicht mehr nur allein um die Pflege eines bürgerlich-idealistischen Kulturverständnisses ging, sondern die Angebotskulisse in erweiterten soziokulturellen Aktionsfeldern neu aufgestellt wurde. Kultur sollte sich nicht mehr nur am bildungsbürgerlichen Paradigma orientieren, sondern ein Ereignis sein, das alle Interessenlagen in sich begreift und eine größtmögliche Öffentlichkeit sucht. Auch wenn sich keine Revolution der Kulturnutzung vollzogen hat, so steht das Musical doch für eine Ausdifferenzierung der Musiktheaterpraxis, die vom frühbarocken Repertoire bis zum experimentellen Musiktheater alle Gattungen, Formate und Produktionsweisen umfasst und damit verschiedene Publikumsschichten erreicht. Auch repräsentieren ästhetische Konzepte von Musicalinszenierungen an öffentlichen Theatern zunehmend die aktuellen künstlerischen Tendenzen, durchaus in deutlichem Unterschied zu den rein auf Popularität und kommerziellen Erfolg ausgerichteten En-suite-Betrieben beziehungsweise Tourneeproduktionen. Das Musical hat nicht die Chance verpasst, künstlerisch gleichwertig neben den anderen Bühnensparten zu stehen.

Produktionsästhetische Diversität

Das oftmals als innovativer Impuls gesetzte „spartenübergreifende Projekt“ ist beim Musical am Ensemble- und Repertoiretheater in der Regel eine Selbstverständlichkeit. Abhängig vom Stil und der Struktur der Werke mischen sich in der Besetzung Ensemble und externe auf Musical spezialisierte Gäste. Der Produktionsaufwand kann bei einzelnen Musicals betriebsintern eine produktive Querverbindung zwischen den Kunstsparten bringen, die sonst im Repertoiretheater nebeneinanderher produzieren. Das betrifft Soli, Ensemble und Orchester gleichermaßen. Auch die exklusive Spezialisierung des Castings bei Rock-, Pop- oder Juke-Box-Musicals durch externe Gäste ist trotz des erhöhten Personalaufwandes ein Zugewinn des bühnenkünstlerischen Spektrums, das nicht allein durch eine hohe Besucherauslastung begründet sein sollte. Die im Musical grundsätzlich geltende produktionsästhetische Diversität, also die Gleichwertigkeit von Tanz, Gesang, Szenenführung und Ausstattung bietet auch dekonstruktiven oder postdramatischen Konzepten die Möglichkeit zur kreativen inszenatorischen Interpretation, auch wenn es oft aufführungsrechtliche Hürden zu überwinden gilt, wenn die Vergabe der Rechte mit der Einhaltung einer autorisierten Fassung oder Textgestalt verbunden ist. Moderne Mehrspartentheater sollten agile Unternehmen sein, die schnell auf ästhetische Entwicklungen reagieren und dennoch nicht den Zuspruch des Publikums aus dem Blick verlieren. Wie in allen Kunstsparten sollten am deutschsprachigen Theater vermehrt Musicals zur Uraufführung oder Erstaufführung gebracht werden – auch im Dialog mit den jeweils verschiedenen Produktionsbedingungen der Häuser oder den regionalen Gegebenheiten.