„Vögel“, „Vor Sonnenaufgang“, „Furor“ und „Jugend ohne Gott“
Noch mehr Premieren, nämlich 14, verzeichnen aber überraschenderweise zwei wesentlich neuere Dramen: Ewald Palmetshofers Hauptmann-Überschreibung „Vor Sonnenaufgang“ und Wajdi Mouawads polyglottes global-jüdisches Stück „Vögel“. Bei Letzterem handelt es sich um eine jüdische Familiengeschichte, in der die ausgrenzend-nationalen Positionen einer Figur durch die Handlung beziehungsweise durch die Enthüllung der verschlungenen Familienbande ad absurdum geführt werden. In Palmetshofers „Vor Sonnenaufgang“ stehen die unergiebigen Diskussionen zwischen zwei ehemaligen Studienfreunden, einem liberalen Journalisten und einem berechnend-volkstümelnden Lokalpolitiker, im Zentrum. Voll kommunikativer Hürden ist auch „Furor“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz: Ein Politiker und ein junger frustrierter Mann scheitern da an einem Dialog. Dieses Drama, das in der letzten Spielzeit uraufgeführt wurde, erreicht bemerkenswerte sieben neue Premieren. All diese genannten Texte beschreiben präzise und schonungslos die Krise der Diskurskultur und damit unserer Demokratie.
Das gilt auch für Ödön von Horváths kleinen, aber heftigen Roman „Jugend ohne Gott“. Auch diese hellsichtige Diagnose des Faschismus im Deutschland der 1930er-Jahre macht nicht unbedingt Mut für die Zukunft. Oder lässt sich aus der Geschichte, die wir längst für „bewältigt“ hielten, doch für die Zukunft noch etwas lernen – etwa indem wir sie auf der Bühne sehen? Auffällig sind nicht nur die acht Inszenierungen des Romans, sondern auch die Tatsache, dass nur eine davon im Kinder- und Jugendtheater vorgesehen ist. (Zur Annäherung der Sparten Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater siehe Seite 78.) So zeigt Thomas Ostermaier zum Saisonstart an der Berliner Schaubühne seine Inszenierung des Werks über eine gottlose Jugend (7. September).
„Gott“ und „Extrawurst“
Beachtenswert sind noch zwei zahlenmäßig sehr starke „Neueinsteiger“: Ferdinand von Schirach hat sein zweites Stück geschrieben, mit dem nicht unbescheidenen Titel „Gott“. Diesmal tagt unter Einbeziehung des Publikums kein Gericht, sondern der Deutsche Ethikrat, der am Beispiel eines älteren gesunden Mannes die Frage um die Rechtmäßigkeit von Sterbehilfe und damit nach dem Recht auf einen selbstbestimmten Tod berät. Etwas sperriger als in „Terror“ diskutieren die Figuren im Stück komplexe Themen, die unsere Gesellschaft im Kern betreffen; letztlich steht dahinter tatsächlich die Frage nach Gott oder die Frage, ob die persönliche Freiheit jedes Einzelnen unbegrenzt ist. Nach der zeitgleichen Uraufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus und dem Berliner Ensemble am 25. April sind zwei weitere Premieren geplant. Von Schirach hat mit dem Stück sein Genre des Gerichtsdramas, das eine juristisch-philosophische Frage an einem Beispiel durch fiktive Figuren diskutieren lässt, fortgesetzt – das ist ästhetisch bescheiden, dafür aber extrem diskursanregend. Da das persönliche Beispiel weniger zentral ist als in „Terror“ und das Publikum nicht so stark involviert ist, das Drama sich also weniger emotional mit dem Publikum verbindet, könnte der Erfolg von „Gott“ etwas moderater ausfallen als beim Vorgängerstück.
Ein noch erfolgreicherer Start steht der „Extrawurst“ bevor, einem ehrgeizigen Boulevardstück. Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob sind erfahrene TV-Comedy-Autoren (aus dem Umkreis von Bastian Pastewka, Anke Engelke und Chris-
toph Maria Herbst). Ihr „Schauspiel in zwei Akten“ bezieht ebenfalls das Publikum mit ein – als Vereinsmitglieder eines Tennisclubs. Bei der Mitgliederversammlung kommen fünf Figuren mit der heilen Welt des weißen Sports über die Frage nach einem neuen, schicken Grill in politisch unkorrekte Turbulenzen, die zum zwischenzeitlichen Rücktritt des Vorsitzenden und dem Austritt des besten Spielers führen. Erol ist Anwalt und Muslim, isst also kein Schweinefleisch und soll daher – ungefragt – einen Extragrill bekommen. Was politisch korrekt beginnt, erweist sich als zunehmend rassistisch; am Ende hat sich das ganze Kollegium zerstritten, und das Parkett soll entscheiden, wie es nun weitergeht im Verein. Die unterhaltsamen Dialoge in dieser scheinbar toleranten Gesellschaft mäandern zwischen geistreich enthüllend und unnötig kalauernd. Thematisch ist „Extrawurst“ ein Stück der Stunde. Die Uraufführung findet am Hamburger Ohnsorg-Theater statt (6. Oktober), es folgen noch sieben weitere Inszenierungen an Boulevardbühnen und kleinen Stadttheatern wie dem Deutsch-Sorbischen Volkstheater in Bautzen.
Trend: Essayistisches Theater
Apropos rheinischer Frohsinn im Theater: Köln, Sitz der Redaktion der DEUTSCHEN BÜHNE und Mittelpunkt allen karnevalesken Frohsinns, gibt diesmal auch im Schauspiel einen auffälligen Trend vor: Essays auf der Bühne. Am Tag nach der Kölner Premiere von Wajdi Mouawads „Vögel“ am 20. September will dort Thomas Jonigk seine Theaterfassung von Caroline Emckes Essay „Gegen den Hass“ auf die Bühne bringen. Der Trend weg vom Rollenspiel und Geschichten-Spielen hin zum monologischen oder chorischen Gespräch ist keineswegs neu, er scheint sich aber verstärkt fortzusetzen. Ein Pionier auf diesem Gebiet ist René Pollesch mit seinen essayistisch sprudelnden Gestalten zwischen Weltdurchdringung und Befindlichkeitsbeschreibungen. Ihm gelingt es immer wieder, das Essayistische mit prallem Theaterleben zu füllen – hoffentlich schafft das auch Jonigk. Pollesch, künftiger Intendant der Volksbühne, wird am 9. Oktober am Berliner Friedrichstadtpalast inszenieren: „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt“ heißt das Stück, das er mit Fabian Hinrichs und 26 Tänzerinnen und Tänzern des Varietétheaters erarbeiten wird. Boulevard und Essaytheater schließen sich demnach nicht aus! Auch „Extrawurst“ ist ein erstaunlich diskursives Boulevardtheater: Die komischen Verwicklungen sind eher kommunikativer Art als durch schräge Handlungen (inklusive Türenschlagen) verursacht.
Auch das Kölner Kinder- und Jugendtheater Comedia hat zum Saisonstart essayistische Pläne. Hier ist die Inszenierung von Marion Muller-Colards Essay-Bilderbuch „Hannah Arendt auf der Bühne“ geplant (ab 24. September). Keine bekannte Geschichte, sondern eine (den allermeisten Jugendlichen unbekannte) Philosophin wird da die Heldin eines Theaterstücks. In dem Buch heißt es: „‚Es ist kein Buch mit einer Geschichte‘, antwortet Hannah, um das Gespräch zu beenden. ‚Es ist ein Buch über … na ja, über den Sinn der Worte.‘“ In diese Richtung entwickelt sich das Schauspiel insgesamt. Das Wiener Burgtheater will sich im Januar Sigmund Freuds „Traumdeutung“ theatral annehmen, am Mülheimer Theater an der Ruhr wird der italienische Regisseur Simone Derai in „Sokrates der Überlebende/Wie die Blätter“ einen toten Philosophen in Szene setzen (16. Januar), im Stück zum 50-jährigen Jubiläum des Ulmer Theaters beschäftigt sich Ulf Schmidt diskursiv ausgehend von der Figur des Schneiders von Ulm mit „Variationen über einen Freiheitstraum“. Am selben Tag, nämlich am feierlichen 3. Oktober, zelebriert das Deutsche Nationaltheater Weimar in acht Monologen verschiedener europäischer Autorinnen und Autoren „Identität Europa“. Der Hang zum Abstrakten ist deutlich; er ist aber auch verbunden mit dem Trend zur Recherche. Am Theater Bern heißt Christoph Fricks Stück schlicht „FIFA“ (19. Dezember), zusammengearbeitet hat er dafür mit einem journalistischen Recherchenetzwerk. Das Staatstheater in der immer wieder von rechtem Terror betroffenen Stadt Kassel bringt zum Saisonbeginn am 12. September Prozessprotokolle auf die Bühne: „Der NSU-Prozess. Die Protokolle“. Schwere Kost, aber Teil einer dringend notwendigen Aufarbeitung.
Tribunalsituationen prägen das Schauspiel in neuen Projekten und, wie wir oben sahen, auch in Stücken wie „Extrawurst“ oder „Gott“. Gerichtsarbeit als theatraler Akt ist auch bei Milo Rau, einem weiteren Meister des essayistischen Theaters, immer wieder ein zentrales Instrument seiner Inszenierungen.
„Vor Sonnenaufgang“ schließlich, dieses ungewöhnlich erfolgreiche neue Stück, ist im Kern auch ein essayistisches Drama. Ewald Palmetshofer nutzt die Folie des naturalistischen Dramas, um zwei sich fremde Denkwelten aufeinanderprallen zu lassen. Der Dialogversuch der ehemaligen Freunde scheitert. Palmetshofers neues Stück „Die Verlorenen“ wird am 19. Oktober im Residenztheater uraufgeführt. Der Kommentar des Autors zu dem Text, der Geschichten von Menschen zumindest andeutet, dreht sich um die – vergebliche, aber im Theater immer notwendige – Hoffnung auf das Wort: „Es ist, als müsste man den Menschen beständig vor dem Tod erretten, aus dem Reich der Dinge, vor dem Zugriff der tödlichen Versachlichung, Verminderung und Profanisierung. Als müsste man für seine Unsterblichkeit kämpfen, mit Worten seine Auferstehung, seine Aufrichtung herbeireden. Als ob man noch beten könnte, erhebt man die Stimme und richtet sie nach draußen, wo keiner ist.“ Eine Theaterwelt ohne Gott.