60 Autorinnen und Autoren der DEUTSCHEN BÜHNE haben abgestimmt: die besten Inszenierungen, die spannendsten Theater und die größten Ärgernisse der Saison
In den Umfragen der letzten Jahre haben es unsere Autorinnen und Autoren stets honoriert, wenn ein Theater sich phantasievoll und engagiert der Gesellschaft zuwendet, mit Rechercheformaten, Dokumentarstücken, mit „Experten des Alltags“, Bürgerbühnenformaten und, und, und … Dafür gibt es auch diesmal Lob.
Auffällig ist aber, dass in den Kategorien, in denen primär die künstlerischen Schöpfer benannt werden, vor allem die großen, vereinnahmenden Kunsterlebnisse für Begeisterung sorgen. So schreibt Georg Kasch etwa über Christopher Rüpings „Dionysos Stadt“: „Lange hat ein Theaterabend nicht mehr so nachgehallt wie dieser: Zehn Stunden pralles Leben von der Erschaffung des Menschen und seiner Ermächtigung durch das Feuer über Macht, Krieg, Leid bis zum Ende eines Fluchs, auf den erst einmal Melancholie folgt – und der Beginn eines neuen Morgens … Zugleich ist der Abend der Beweis, dass Theater als Fest auch im Jahr 2019 und mit reduziertem Pathos hervorragend funktionieren kann.“
Mut zu neuem Pathos
Rüping ist in der Kategorie Schauspiel der meistgenannte Regisseur. Auf Platz 2 steht Ulrich Rasche – Ulrike Hartung spricht von seinen „energetischen Inszenierungen“, Björn Hayer attestiert ihm „Mut zu neuem Pathos“. Auch hier steht die auratische Wirkung der ebenso zyklopischen wie artifiziellen Bühnenmaschinen im Vordergrund, an denen die Schauspieler sich abrackern müssen – und damit die ästhetische Faszination. In der Oper haben sich Florian Lutz und Romeo Castellucci an die Spitze gesetzt – zwei Regisseure, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten. Bei Lutz wird die Oper zum avantgardistischen Mitmach-Happening, bei Castellucci zum mythischen Ritus. Dennoch steht bei beiden das künstlerische Erlebnis im Zentrum. Natürlich können und werden sich bei den Zuschauern auch hier thematische Assoziationen einstellen; diese künstlerischen Geschehnisse wollen ja dazu verführen, sie mit eigenen Erfahrungen, Erinnerungen aufzuladen. Aber die Basis ist das Sich-Ausliefern an das Ästhetische. Das Kunstwerk erklärt sich nicht durch eine bestimmte Absicht (Recherche, Integration, Ermächtigung des Zuschauers und so weiter).
Damit gewinnt das Theater eine Dimension zurück, die in den derzeit weit verbreiteten Formaten gesellschaftlich relevanten Theaters mitunter in den Hintergrund tritt: seine Autonomie gegenüber aller a priori definierten sozialen Nützlichkeit oder politischen Erwünschtheit. Genau darauf zielt ex negativo Björn Hayer, wenn er als Ärgernis ein politisches Theater benennt, „das allzu erwartbar geworden ist und keinerlei Alterität und Reibungsfläche mehr zu erkennen gibt“. Bei Rüping oder Lutz dagegen wird Kunst wieder unberechenbar und unverfügbar. Denn was diese Erlebnisse im Einzelnen auslösen, ist nicht vorhersehbar. Und trotzdem bleibt auch hier eine genuin politische Dimension bestehen. Es entsteht zwar ein Freiraum für das Ausleben subjektiver Eindrücke; dieser Freiraum wird aber gemeinschaftlich erfahren – und lädt damit auch wieder zum gegenseitigen Abgleich ein: Theater als Raum, in dem sich aus Individuen mit ihren subjektiven Gedankenkosmen eine Gemeinschaft formiert. In einer Gegenwart der normierten Netzkommunikationen isolierter Subjekte in virtuellen Meinungsblasen kann das etwas sehr Wertvolles sein.
„Am Ende fühlt man sich einerseits erschüttert von so viel nicht enden wollender Gewalt, andererseits wohlig geborgen in einer Überlieferung, die viel größer ist als man selbst“, schreibt Georg Kasch resümierend über „Dionysos Stadt“. Dass gerade diese Produktion Anlass für solche Betrachtungen gibt, ist gewiss kein Zufall. Denn das Theater kehrt hier tatsächlich zu seinen griechischen Anfängen zurück: zu den antiken Dionysien, zu deren Riten auch der Ausbruch exzessiver Subjektivität gehörte.
Das starke Mittelfeld
Zweite Auffälligkeit dieser Umfrage: Normalerweise sieht die Sortierung der Antworten immer so aus, dass es einen oder zwei klare Spitzenreiter gibt und dahinter sehr viele Einzelnennungen mit lediglich einem Votum. Diesmal aber haben unter den drei Fragen zu den Theaterinstitutionen (1 bis 3) auch auf den hinteren Plätzen eine ganze Reihe von Häusern mehrere Stimmen. Unter Gesamtleistung folgen auf die beiden Spitzenreiter Theater Basel und Münchner Kammerspiele drei weitere Häuser mit je drei Stimmen: die Oper Frankfurt, die Komische Oper Berlin und das Schauspiel Hannover; und danach stehen mit je zwei Stimmen das Staatstheater Stuttgart, das Staatstheater Nürnberg, das Deutsche Schauspielhaus Hamburg, das Staatsschauspiel Dresden sowie die Oper Halle. Und unter Abseits großer Zentren stehen hinter den beiden Spitzenreitern sogar sieben Häuser mit je zwei Stimmen. Hier honorieren unsere Autoren, dass sich immer mehr Theater an dem Aufbruch zu einer ästhetischen Diversität für ein diverses Publikum beteiligten.
Beispielhaft sei Manfred Jahnkes Einschätzung des unter Abseits der Zentren zweifach genannten Landestheaters Schwaben in Memmingen zitiert: „Mittlerweile ist Intendantin Kathrin Mädler in den Mühen der Täler angekommen. Aber das Team lässt sich nicht von der bayerisch-schwäbischen Mentalität unterbuttern. Nach wie vor fordert es sein Publikum mit Stücken von hoher ästhetischer Qualität heraus. Und man wagt auch, Schwerpunkte zu setzen. Nicht nur, dass die Intendantin öffentliche Gesprächskreise mit Frauen aus der Region führt, sondern auch im Spielplan spielen Geschichten um Frauen eine große Rolle. Die Bürgerbühnen nehmen einen immer größeren Stellenwert ein, und auch die Vernetzung mit anderen Memminger Institutionen wird konsequent vorangetrieben. Spannendes Theater allemal.“
Eine ausführliche Auswertung unserer Saisonbilanz sowie alle Tabellen mit den Nennungen der einzelnen Autoren finden Sie im aktuellen Heft.