Cover Kinbom & Kessner: „Anthropos“, Hook Music

Musik: Kinbom & Kessner: „Anthropos“

Das Ende des Anthropozäns ist oft ausgerufen worden in der letzten Zeit, sei es in der Literatur, in wissenschaftlichen Publikationen oder auf der Bühne. Die Behauptung (oder Einsicht): Mit uns Menschen ist es vorbei, zumindest als Krone der Schöpfung und als Zentrum unserer Welt. So sanft und eigenwillig, so fantasievoll und zugewandt wie Kinbom & Kessner auf ihrem Album „Anthropos“ hat das aber vielleicht noch niemand behauptet.

Zehn Lieder gibt es zu hören, von der Berliner Theatermacherin Sonja Kessner getextet und gesungen und von dem schwedischen Steel-Lap-Virtuosen Fredrik Kinbom komponiert, arrangiert und begleitet. Dazu kommen illustre Gäste: Angela Winkler singt ein bisschen Schiller und Axel Werner spricht ein bisschen Heine. Auch auf der Instrumentenseite gibt es prominente Gäste: Hans-Jörn Brandenburg (Flügel, Harmonium, Celesta), Andreas Dormann (Bassklarinette, Saxophon), Paul Brody (Trompete, Flügelhorn) und Chris Farr (Schlagzeug) füllen Kinboms Arrangement mit eigenwilligen Leben. Das Ergebnis ist ein warmer, psychedelisch angehauchter, cool jazziger Sound, der uns begütigend am Abgrund wiegt.

„Ein Funke Geist kann die Welt in Schutt und Asche legen“ ist Sonja Kessners erster Satz. Und am Ende heißt es, im letzten, viel zu kurzen Lied „Wissen ist Nacht“, einer wunderbar introvertierten Mini-Hymne: „Wo ein Mensch ist, wird ein Rätsel sein.“ Wir sind am Ende, hören wir, unsere Zeit ist verbraucht, aber es ist wohl doch Schönheit in uns. Wie in Kessners klarer und doch wandlungsfähiger Stimme, mit der sie ihre poetischen Texte klug vorträgt und dabei sehr bewusst und liebevoll mit der Sprache umgeht. Gerade in weit ausschwingenden Phrasen erinnert das tatsächlich ein wenig an Leonard Cohen. Und Sonja Kessner schenkt uns, im Einklang mit der Musik, jene Lust am Jetzt und Hier, jenen nur scheinbar unbedarften Flower-Power-Lebensfunken, der uns eben nicht abturnt, sondern hineinzieht in einen kleinen Rausch ohne Kater. Und um ein Missverständnis von vorneherein auszuschließen: Hier wird nicht gejammert. Eher feiern Kinbom & Kessner, die neue Zeit, für die wir ja gerüstet sind, weil wir, die Menschen, in ein paar tausend Jahren ja echt viel erlebt haben. Und in den knapp 40 Minuten sind sogar Partikel einer Lösung versteckt, in Worten, Geräuschen, musikalischen Motiven: Es geht nur gemeinschaftlich. Das wissen wir natürlich alle, aber fast niemand lebt es. Aus diesem Gedanken scheint „Anthropos“ entstanden zu sein und ist für mich, bei aller Einsicht in Enden und bei aller Melancholie, eine sanfte, schlanke Utopie für die Hörbühne. Und echt gute Musik.

„Anthropos“ von Kinbom & Kessner ist am 10. Juni 2022 unter der Nummer 216882 im Label Hook Musik im Verlag Theater der Zeit erschienen und kann dort als CD (für 15,90 €) und als LP (für 28 €) erworben werden. Einen kleinen Vorgeschmack gibt es HIER.

 

KInbom & Kessner © Jenny Fitz

Kinbom & Kessner © Jenny Fitz