Tatsächlich interessiert mich vor allem die persönliche Haltung des Regisseurs Sebastian Hartmann dem klassischen Rollenspiel gegenüber. Er ist ein Theatermacher, der immer wieder Bühnenskandale produzierte. Die „Spiralblockaffäre“ 2006 in Frankfurt, bei der ich Augenzeuge war, entwickelte sich aus der Unlust eines Kritikers am Mitspielen des Publikums, das gehalten war, in Ionescos „Das große Massakerspiel“ verschiedene Spielstationen aufzusuchen. Wirklich herausfordernd für das Publikum geriet aber die Inszenierung von O’Caseys „Purpurstaub“ 2014 bei den Ruhrfestspielen, als nach einer breit ausgespielten Spielverweigerung des Ensembles das Publikum in Recklinghausen (und später wohl auch in Stuttgart) das Spiel in großen Scharen verließ. „Ich wundere mich seit Jahren, dass die Leute nicht merken, dass ich mit ihnen was anstelle, wenn sie zugucken“, sagt Hartmann. Er will nicht Stücke interpretieren, vielmehr durch künstlerische Setzungen das Publikum herausfordern: „Ich halte mich für einen Solitär und arbeite an einer eigenständigen Denke über Theater. Ich möchte Kunst machen und kein Handwerk. Es geht mir um eigenständige Momente, die beim Publikum etwas auslösen.“
Die Stoffe dazu sind oft ganz große Romantexte: „Krieg und Frieden“, „Schuld und Sühne“ oder „Ulysses“ lauteten Inszenierungen Hartmanns in den letzten Jahren. Mindestens zwei-, eher dreimal ackert Hartmann sich hier, in der ländlichen Abgeschiedenheit der nördlichen Uckermark, konzentriert durch diese Werke auf der Suche nach einem „konzeptionellen Kern“. In „Purpurstaub“ wurde das Stück um das Scheitern eines alternativen Lebenstraums zur Verweigerung eines geordneten Komödienspiels. Ein Konzept, das den Zuschauer durchaus vier Stunden lang nerven konnte. Dass er es dem Publikum nicht leicht macht, ist ihm klar: „Ich suche einen sinnlichen Anschluss zum Zuschauer. Das ist allerdings schwer, wenn man es sozusagen mit einem Totenschein begrüßt.“
Dabei hat Hartmann zuweilen auch einen ausgeprägten Sinn für leise Töne jenseits des Polterns und Provozierens. Gegen Ende seiner Leipziger Intendanz inszenierte er 2011 Ingmar Bergmans Filmstoff „Fanny und Alexander“ als melancholische Liebeserklärung ans Theater. Die Abgründe des puritanisch-grausamen Stiefvaters spielten gar nicht die zentrale Rolle. Und im rundum beeindruckenden „Ulysses“ setzte sich das starke Ensemble auf einer wunderbar vieldeutigen Bühne intensiv mit den letzten Fragen des Lebens auseinander, sodass man zuweilen eine Nähe zu einer esoterischen Sicht auf die Welt sehen konnte.
„Ich habe mich immer für Stoffe interessiert, die ohnehin nicht aus einer Figurenhaltung heraus gesprochen haben, sondern eher aus einem konzeptionellen Kern.“ (Sebastian Hartmann)
Hartmann verlangt von seinem Theater alles: „Ich wollte es wissen. Ich habe mal gedacht, ich mache einen zweiten Teil vom ‚Ulysses‘. Aber das mache ich nicht. Das ist nicht gesund für den Kopf. Du kannst irgendwann nicht mehr denken.“ Bei Hartmanns globalem Theateransatz, der das Publikum nicht schonen will, bleibt wenig Raum für psychologisch feines Rollenspiel. In meiner Kritik zu „Ulysses“ vor knapp zwei Jahren am Deutschen Theater in Berlin heißt es: „Insgesamt aber verzichtet die Inszenierung weitgehend auf eine durchgehende Figurenzeichnung dieses (ohnehin schon sehr disparaten) großen Romans des 20. Jahrhunderts.“ Das Gesamtkonzept steht über der naturalistischen Darstellung. „Ich habe mich immer für Stoffe interessiert, die ohnehin nicht aus einer Figurenhaltung heraus gesprochen haben, sondern eher aus einem konzeptionellen Kern.“ So hofft Hartmann, mit dem Zuschauer intensiv in einen Diskurs zu treten. „Indem der Zuschauer mit mir beziehungsweise dem Team den Stoff verwaltet und so vielleicht mit einer Information aus dem Theater geht. Und nicht dem Ritual: Ich habe ein trauriges Stück gesehen. Er soll aber mitdenken; mir ist das Wichtigste beim Verlassen von Rollen: dass man nicht diesen psychologischen Ablass hat auf der Bühne.“
Traditionell-naturalistisches Rollenspiel ist also in Hartmanns Theater undenkbar. Er mag es nicht, denn es ist für ihn Teil des verlogenen, im Angesicht des Klimawandels endgültig herabgewirtschafteten bürgerlich-kapitalistischen Systems: „Im Ritualtheater, dem Ablass von Psychologie und verwalteter Untat, wenn der Iffland-Ring-Träger larmoyant dieses wunderbare Shakespeare-Lied singt und alle verwechseln ihre eigene Traurigkeit mit dem Stück und haben nicht gemerkt, dass Shakespeare tatsächlich mit dem Stück einen Keil in den Menschenkopf gerammt hat.“
Shakespeares Texte sind also nicht das eigentliche Problem: „Aber die bürgerliche Heuchelei hat ihn schon längst einverleibt und transformiert. Das Ritual war mal Opfer, Härte. Wenn Shakespeare unsere Welt 2019 gekannt hätte, dann hätte er ein anderes Stück geschrieben, wesentlich härter.“ Differenziertes Rollenspiel in der Tradition Stanislawskis kann Schauspieler und Zuschauer also nicht der Seele des Menschen näherbringen? „Das übersteigerte Beharren auf der Seele hat dazu geführt, dass wir unseren Kindern die Lebensgrundlage geraubt haben. Mit einer Kolonialisierung von Geist und Welt, einer Entsozialisierung des Miteinanders. Seele ist ein romantisch verankerter Begriff; das kommt mir räuberisch und furchtbar vor. Vielleicht bin ich ja auch auf der Suche nach einer Seele, allerdings mit einem anderen Anspruch an den Menschen, mit einer anderen Ethik.“
„Wenn Shakespeare unsere Welt 2019 gekannt hätte, dann hätte er ein anderes Stück geschrieben; wesentlich härter.“ (Sebastian Hartmann)
Hartmanns jüngste Inszenierung „Lear“ nach Shakespeare, verbunden mit der Uraufführung „Die Politiker“ von Wolfram Lotz, ist im (weitaus längeren) „Lear“-Teil „eine Verweigerung“. Die Interpretation des Lotz-Monologs durch Cordelia Wege, Hartmanns Lebensgefährtin, ist ein riesiger Erfolg. Auch wenn Hartmann ihm ein mehrstündiges kalkuliertes Shakespeare-Ärgernis vorgeschaltet hat. Hartmann „war irritiert, dass die Kritiker das nicht mitbekommen haben. Der Witz ist ja, dass der Lotz-Text von einer Cordelia gesprochen wird, die im echten Leben auch eine Cordelia ist, und dass er ungestrichen ist. Diese scheinbare Cordelia verwaltet im ersten Teil den Text von Lear mit. 40 Minuten Theaterzauber, die das Publikum begeistern, und zuvor die absolute Tristesse und die absolute Stagnation und der Nihilismus. Damit sollte man als Kritiker doch umgehen können. Es geht mir um die Zertrümmerung dieses bürgerlichen Hochgebildes.“
Die Ablehnung von psychologischem Rollenspiel bedeutet wohlgemerkt keine Ablehnung von Schauspielkunst: „Sie nimmt den größten Platz ein. Sie ist der Indikator dessen, was auf der Probe gedacht wurde. Es wird Text verhandelt, und die Leute gehen auf die Bühne und fangen an zu spielen. Es gibt allerdings nicht mehr die Szene, die auf die Szene folgt, sondern es gibt Texte, die in Szenen verwandelt werden. Und da ist der Schauspieler natürlich wahnsinnig wichtig. Indem er vom bürgerlichen Verständnis der Wiederholbarkeit von Szenen und Psychologie abrückt und in diesem Moment seine Psychologie erschafft, auf der Bühne. Daher ist es wichtig, dass es jemanden gibt, der etwas gedacht hat, also die Regie und die Dramaturgie.“
So ganz leuchtet mir die radikale Ablehnung des bürgerlichen Rollenspiels noch nicht ein. Dass der selbst verschuldete Klimawandel unsere Kultur in eine tiefe Krise stürzt, ist wohl unbestritten. Aber können wir daher gar nicht mehr Shakespeare spielen? Hartmann: „Wir müssen uns relativ schnell woanders finden, sonst ist es aus. Es ist furchtbar, das zu sagen, aber ich denke, dass der Point of no Return eigentlich schon überschritten ist. Da ist ‚King Lear‘ eben eine Sterbesituation mit der Diagnose, und dann kommt mit Wolfram Lotz einfach noch einmal ein Scherz. Das ist ziemlich genau der gleiche Text, nur dass er in einem wahnsinnig gerissenen Komödienstil geschrieben ist. Er beherrscht das Woher und Wohin nicht mehr. Eigentlich liefert Lotz eine Zustandsbeschreibung von einem Unwissen.“
Dennoch sind neue Texte nicht einfach die Lösung, sie sind rar, nicht umsonst produziert Lotz sehr wenig: „Ich lese selten gute Stücke. Und was mir letztes Jahr bei den Autorentheatertagen passiert ist, passiert mir nicht noch einmal.“ Bei einem Blind Date hat Hartmann im letzten Jahr bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater ein preisgekröntes Stück in der Uraufführung eigenwillig uminszeniert. Mit durchschlagendem Skandalerfolg: Hartmann wurde vorgeworfen, ein Stück bei seiner Uraufführung entstellt zu haben.
Im Mai wird Hartmann die bewährte Theaterkomödie „Der nackte Wahnsinn“ am Schauspiel Dresden inszenieren. Auch hier ist die Gegenüberstellung mit einem anderen, kontrastreichen Stück geplant, als „Der nackte Wahnsinn + X“. Das Theater verspricht: „Nach dieser atemlosen Komödie folgt nach einer Pause ein zweites Stück, in dem das Motiv der aus den Fugen geratenen Vernunft in einer tragischen und abgründigen Dimension erscheint.“ Während unseres Gesprächs, gerade als wir über diesen Plan sprechen, klingelt Hartmanns Handy: Der Dramaturg will vermutlich mit ihm klären, welcher Text denn nun die Komödie durch eine starke Setzung umpolen soll.
Vorbereiten wird sich Hartmann wieder in der ländlichen Abgeschiedenheit der Uckermark. „Auf dem Land kann ich mich besser konzentrieren zum Arbeiten. Ich bin ganz froh, dass ich in meinem Haus nicht überall Handyempfang habe. Sie werden lachen, aber am schönsten ist es, wenn der Strom ausfällt. Der Ort liegt wirklich am Ende. Und wenn es stürmt, kann dann der Strom einen Tag weg sein. Ich habe es auch vor Jahren genossen, als nach dem Vulkanausbruch in Island keine Flugzeuge fliegen konnten.“
Hartmann isst zu Beginn unseres Gesprächs zwei halbe Brötchen mit gekochtem Ei. „Zu Hause hätte ich Ihnen echte Eier geben können.“ Er fährt mich gleich zurück zum Bahnhof, anschließend geht es in den Wald zum Holzholen, danach holt er die Kinder aus Schulen ab, die jeweils einige Kilometer entfernt sind. „Ich fahre einen Jeep, aber ich fahre damit in den Wald und hole Holz. Ich heize mit Holz.“
Als mein Zug am Abend ausnahmsweise beinahe pünktlich in Köln eintrifft, erhalte ich einen Anruf, Hartmann bringt seine Ablehnung des traditionellen Rollenspiels noch einmal auf den Punkt: „So wie fossile Energien am Ende sind, geht ,Lear‘ nicht mehr auf dem Theater. Und ich muss meine Holzöfen ersetzen durch erneuerbare Energien.“ Das Buch, das Hartmann zum Abschied seiner Leipziger Intendanz 2013 herausgab, lautete im Untertitel „Theater und erneuerbare Energien“.
Über den Regisseur Sebastian Hartmann:
» Geboren 1968 in Leipzig
» Schauspielstudium an der Leipziger Theaterhochschule „Hans Otto“
» Arbeit als Bühnen- und Filmschauspieler (Ensemblemitglied am Nationaltheater Weimar und am Berliner Carrousel-Theater)
» Ab Mitte der 1990er-Jahre erste Inszenierungen
» 1998 Gründung des „wehrtheaters hartmann“
» 1999 Inszenierungen am Theaterhaus Jena und am „Theater unterm Dach“ in Berlin sowie an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin (Ibsens „Gespenster“)
» Inszenierungen am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Theater Basel, Schauspiel Köln, Theater Magdeburg, Schauspiel Frankfurt, NO99-Theater Tallinn sowie am Nationaltheater Oslo
» 2008 bis 2013 Intendant am Schauspiel Leipzig
» Inszenierungen u. a. am Deutschen Theater Berlin und Staatsschauspiel Dresden
» 2019 Einladung zum Berliner Theatertreffen mit „Erniedrigte und Beleidigte“ (Staatsschauspiel Dresden)