Der Grund für diese Verwandlung ist die Stückwahl des diesjährigen Hofspektakels. Zum 45. Mal spielt das Puppentheater im Sommer eine eigens für die Freilichtbühne entwickelte Inszenierung im Innenhof, stets mit leicht veränderter Raumdisposition, in der Regel aber mit der Terrasse des hauseigenen Cafés als Bühne.
Dieses Jahr nun ist alles anders. Und der Grund ist nicht, zumindest nicht nur, Corona, sondern in erster Linie tatsächlich die Stückwahl. Man spielte „Ein Spätsommernachtstraum“ nach Shakespeare, in der von Regisseur Moritz Sostmann bearbeiteten und ergänzten Übersetzung von Rebekka Kricheldorf. Und wo spielt der „Sommernachtstraum“?
„Irgendwann saß ich mal hier und habe überlegt: Wald – wie kriegen wir das realisiert? Ich sah auf die Birke und die Fichte, die schon lange in diesem Hof stehen, und auf die berankten Zäune, die vom Sommer-Open-Air von vor fünf Jahren übriggeblieben sind, und die Lebensbäume, die Scheinzypressen und den Kirschlorbeer da hinten, die ich vor acht Jahren mal gepflanzt habe. Man musste das eigentlich bloß noch verstärken, was reinsetzen, damit ein Wald entsteht“, erzählt Sven Nahrstedt. „Bloß noch“ hieß in diesem Fall drei Monate harte Arbeit für ihn und seine Kolleginnen und Kollegen.
Anlegen, Begrünen, Bepflanzen. Dabei immer Sichtachsen mitdenken. So sitzt jetzt das Publikum selbst auf der Caféterrasse und sieht auf einen gut 30 Meter tiefen angelegten Wald. Mit Moos und Büschen und Gras und Blüten und Totholz, einer neu angelegten Brücke und einem Trabbi, der leicht schief am Waldrand steht, als hätte ihn jemand anlässlich der Wiedervereinigung dort vergessen. Vor dem Wald: eine Bretterbühne aus Douglasie, witterungsbeständigem Hartholz, das nicht quillt oder fault, rechts und links umgeben von Häuschen zum Auf- und Abtreten.
Denn diese Bühne ist nicht nur für ein Hofspektakel angelegt. Sie wird die Möglichkeiten des Puppentheaters Magdeburg dauerhaft erweitern. Genau wie der Wald, der nach der letzten Vorstellung des diesjährigen Spektakels den Mitarbeitern und Besuchern des Theaters zwecks Begehung und Entspannung zur Verfügung steht, sozusagen als kleine grüne Extralunge. Und jetzt schon als Biotop für die Vögel. Eine Lerche, längst selten geworden in Deutschland, soll mit einem Solo als Zaungast die Hauptprobe bereichert haben. Im nächsten Jahr wird es zunächst eine Reprise geben. Dann soll der „Spätsommernachtstraum“ in seiner ursprünglich geprobten Gestalt gezeigt werden, ohne die durch die Pandemie notwendig gewordenen Abstände, Anpassungen und Improvisationen, obwohl diese stellenweise den Theaterabend sogar auf witzige Weise bereichern.
Der verläuft ohnehin höchst unkonventionell. Mit zwei inhaltlichen Setzungen befreit Moritz Sostmann das bekannte Stück spielerisch von zu Klischees geronnenen Konventionen. Am Anfang lässt er seine Spieler ohne Puppen auftreten, einerseits als Handwerkertruppe, andererseits als Schauspieler bei der Konzeptprobe. Florian Kräuter – Peter Squenz und Oberon in Personalunion – faselt philosophietrunken (und ein wenig machtgeil) von Schopenhauer, von jenem kulturpessimistischen Idealismus, der einem aufgibt, sich für eine bessere Welt einzusetzen in vollem Bewusstsein, dass diese ohnehin chaotischen Prozessen unterworfen und nicht steuerbar ist. Aber man soll dennoch etwas tun. Kräuter wird zunehmend fanatisch, sein Ensemble ist befremdet und irritiert, das Publikum animiert.
Und was hat das mit dem Stück zu tun? Die Frage verstört nicht, sie kommt eher daher wie eine prickelnd attraktive Rätselaufgabe. Aus dem „Sommernachtstraum“ ist unversehens wieder ein weißes Blatt geworden. Zumal die zwei Liebespaare – alte Menschen sind. Die vier vom internationalen Puppenbauguru Hagen Tilp angefertigten Figuren verbreiten fröhlich-sauer-selbstbewusst-hinfällige Altenheim-Atmosphäre. Man geht mit ihnen, lacht und leidet mit ihnen, an ihnen, über sie.
Alles kommt locker und direkt daher. Weil Inszenierung und Theater ihre Ressourcen produktiv nutzen und sie so erhalten und schöner machen. Das gilt für den Hexensabbat im Wald kurz vor Schluss, ein orgiastisches Kulturgeschichtshappening, wo mit viel Energie und angenehm rationell eingesetzten Mitteln weit über den Rahmen des „Sommernachtstraums“ hinausgedacht und erzählt wird. Das gilt für die kluge Nutzung des Raums. Fast möchte man hier, trotz aller Gefahr der Abgedroschenheit, von Dialektik sprechen: Bühne und Wald, Theater und Garten fungieren als sich gegenseitig steigernde und strukturierende, so einen geistigen Rahmen definierende Gegensatzpaare – durch die optische Gestaltung noch stärker als Athen und der Elfenwald bei Shakespeare. Deklamiert wird auf den Holzbrettern, getanzt im Grünen; ordentlich, methodisch gedacht wird vorne, der Rausch findet hinten statt. Und manchmal alles gleichzeitig. Dazu kommt der Umgang mit den Geschlechterrollen: Titania, das weibliche Prinzip an sich aus der archaisch-poetischen Elfenwelt, trägt Hippiehosen, Lysander wird von einer Frau bewegt und gesprochen, Hermia von einem Mann, unaufgeregt und stimmig.
Und dann die Puppenkonstellation: Den vier neu gebauten alten Liebhabern stehen Elfe und Puck aus dem Fundus gegenüber. Letzterer ein schlichtes lautes, gernegroßes, hinterfotziges Kasperle, von Oberon stückecht am Gängelband geführt. Dafür sind die Puppen für Pyramus und Thisbe fast 200 Jahre alt. Sostmanns Inszenierung verzichtet kurz vor dem Ende auf tragikomisches Handwerker-Laientheater. Stattdessen schafft es Lennart Morgenstern, der als Schauspieler den Zettel verkörpert, mit viel Energie und subtiler Puppenspielkunst, aus den filigranen Gestalten der antiken Puppen und der bekannt grob ironisch gestrickten Liebesgeschichte eine melancholische Minikomödie zu destillieren.
Dieser „Spätsommernachtstraum“ ist ein ganz großer Abend, ein gar nicht kleines, auf vielen Ebenen wahrhaft nachhaltiges Theaterwunder. Weil hier das Theater ganz bei sich bleibt, bei seinen eigenen Ressourcen, seinen ureigenen Spielformen, sozusagen im dynamischen Energiesparmodus. Weil handwerklich alles stimmt, mit Puppen und ohne, und dies auch als Wert der Aufführung künstlerisch kommuniziert wird. Weil die Tiefe des Raumes und seine konsequente, phantasievolle und vor allem organische Gestaltung einen eigenen Zauber einbringen. Weil die Symbiose zwischen Menschen und Puppen strahlt. Der Umgang mit den Puppen scheint den Spielerinnen und Spielern fast Flügel wachsen zu lassen, und die Puppen müssen eben nicht auf Abstände achten, zumindest jetzt nicht mehr als letztes Jahr. Sie können einfach beieinander sein. Und müssen nie fürchten, realistisch zu wirken.
Das Publikum profitiert übrigens noch auf einem anderen Weg von der ganzheitlichen, auf Nachhaltigkeit gerichteten Flexibilität aller Beteiligten. Nur weil in unglaublichem Tempo aus überzähligen Europaletten auf Abstand stellbare Zweiersofas gefertigt wurden, konnten die Vorstellungen überhaupt stattfinden, zwar nur für die Hälfte der ursprünglich geplanten Zuschauerzahl, aber mit echter Theateratmosphäre, ein rares Gut im Juni 2020, und sogar mit gastronomischem Service. Weil die Palettensofas breite Lehnen haben, auf denen man sein Getränk abstellen konnte, wurde einfach am Platz serviert! Es war also alles da an diesem außergewöhnlichen Theaterabend. Und noch etwas mehr. Und das bleibt. Und kann wiederkommen.