Auf Bonn folgen auf einem gemeinsamen zweiten Platz die Oper Frankfurt und das Theater Basel mit jeweils drei Nennungen. In Basel ist es – durchaus ein deutlicher Kontrast zum Lob der Bonner Einzelproduktionen – nicht nur die Exzellenz einzelner Produktionen, sondern eher das spartenübergreifende Gesamtbild des Theaters, das überzeugt. Georg Rudiger betont das neue Konzept, „das Haus in die Stadt zu öffnen und das Theaterfoyer jeden Tag zu einem öffentlichen Ort und einem spannenden, kreativen Treffpunkt der Stadtgesellschaft zu machen“. Bettina Schulte macht deutlich, dass die Öffnung und Spartenüberschreitung am Haus einem größeren Plan folgt: „Demokratisierung ist das Stichwort. (…) Zum Foyer Public – der täglichen Öffnung des Foyers für alle – soll ab der nächsten Spielzeit das Theater Public kommen: eine Kollaboration mit zehn um den Theaterplatz angesiedelten Institutionen.“
Gesamtleistung: Kleines Haus
Bei den kleineren Häusern teilen sich vier ganz unterschiedliche Theater die Gewinnerposition mit jeweils zwei Nennungen: Der Theaterdiscounter Berlin (TD), „Spielstätte und Produktionsort für zeitgenössisches Theater + Performances“, das Theater Erlangen, ein Stadttheater mit Schauspielensemble, das Theater Heidelberg, ein Mehrspartenhaus mit starker internationaler Ausrichtung, sowie das Stuttgarter Theater Rampe, ein „Produktionshaus für zeitgenössisches Autor*innentheater, Performance, Tanz und Populärmusik“. Spartenübergreifend lässt sich hier auch noch das Theater Regensburg nennen, das nämlich mit der Nennung in der Kategorie Großes Haus ebenfalls auf zwei Nennungen kommt und also auch in dieser Hinsicht zeigt, wie schwer haltbar viele Grenzziehungen sind. Hinzu kommt hier, dass das Theater eine „Scharniersaison mit dem Interimsintendanten Klaus Kusenberg“ (Christian Muggenthaler) hinter sich gebracht hat: „Eine aus der Situation geborene extrem offene und demokratische Augenblickslösung voll kreativer Kraft und Lust am Spiel und Experiment.“
Spartenübergreifende Gesamtleistung
Bevor wir zur Würdigung einzelner Leistungen und Sparten kommen, erweitern wir an dieser Stelle die Auswertung. So schwer beziehungsweise subjektiv die Abgrenzung großer und kleiner Theater ist – sinnvoll ist sie nichtsdestotrotz, um Unvergleichbares wie ein großes Staatstheater und eine kleine Off-Bühne jeweils zu seinem Recht kommen zu lassen – und so sehr, wie wir bereits gesehen haben, die Theatergenres sich miteinander vermischen oder neue Verbindungen eingehen, so nützlich und sinnvoll ist es, die Gesamtergebnisse unter den genannten Theatern zu ermitteln: nicht nur in den (in dieser Saison besonders schwer zu ermittelnden) Gesamtleistungsresultaten, sondern auch bei künstlerisch konkreten Nennungen.
Wenn wir also alle positiven Nennungen zusammenzählen, ist das Deutsche Schauspielhaus Hamburg mit zehn Stimmen der klare Gewinner der Autor:innenumfrage zur Spielzeit 2021/22. Mit zwei Nennungen als überzeugendes großes Haus, mit insgesamt vier Nennungen im Schauspiel, mit drei Nennungen im Bereich Bühne/Kostüme/Video/Sound und einer positiven konkreten darstellerischen Leistung in der Frage zum subjektiven „Erregungsmoment“ in der Spielzeit. Das überragende Ergebnis des Theaters hat sein Fundament in der auf Karin Henkels Regie und Lina Beckmanns Spiel basierenden „Richard III.“-Überschreibung, die in Kooperation mit den Salzburger Festspielen entstanden ist – und die noch in der Kategorie Schauspiel zu würdigen bleibt. Zufall ist es aber vermutlich nicht, dass auch hier ein klassischer Text, ein Shakespeare-Drama, genderübergreifend besetzt und überschrieben wurde. Die Klassiker, so deute ich diese Einschätzung unserer Kritiker:innen, haben uns etwas zu sagen, wenn sie mit dem Heute konfrontiert werden.
Es folgt mit sieben Nennungen das Staatstheater Nürnberg. Auf einem breiten dritten Platz kommen dann auffällig viele mittelgroße Mehrspartenhäuser mit fünf Nennungen, das Theater Regensburg, das Theater Heidelberg, das Theater Bonn und das Theater Bremen, das Nationaltheater Mannheim, das Deutsche Nationaltheater Weimar, aber auch die Bayerische Staatsoper, das Hamburger Thalia Theater sowie das Schauspiel Stuttgart, das als Gesamt-Staatstheater zudem noch einige indirekte Erwähnungen erhalten hat.
Digitales
Die jüngste Kategorie unserer Umfrage ist ein Kind der Pandemie und für manche Autor:innen bei wieder geöffneten Theatern nicht mehr von Interesse. Andere wie Jasmin Goll stellen fest, sie habe das „Gefühl, vielerorts kehrt man recht schnell zum erachteten ‚Kerngeschäft‘ zurück“. Dass Digitales in der Bindung des Publikums eine wichtige Rolle spielen kann, betont Wolfgang Reitzammer: „Nicht spektakulär, aber hilfreich: digitales Foyer, digitales Programmheft, Audio-Einführungen.“
Die herausragende künstlerische Innovation im digitalen Bereich gewinnt (wie im Vorjahr) mit zwei Nennungen die Gruppe punktlive um Cosmea Spelleken. Jan Fischer bemerkt, „wie sie mit den Projekten ‚werther.live‘ und ‚möwe.live‘ den Desktop als Bühne für großes Theater bespielen“.
Schauspiel
Mit drei Nennungen – zu denen noch weitere zwei im Bereich Bühne kommen – ist, wie schon gesagt, „Richard the Kid & the King“ die Gewinnerproduktion im Schauspiel. Ruth Bender schreibt: „Frappierend schlüssig erscheint diese Interpretation ,Richards III.‘, die mitten ins Hier und Jetzt von Populismus, Egozentrik und Irrsinn trifft. Mit der furiosen Hauptdarstellerin Lina Beckmann und einem kaum dahinter zurückstehenden Ensemble ein großartiges Beispiel, wie Theater mit der Zeit geht und sie notwendig erhellt und erklärt. Wild, wütend, verstörend, genial!“ Eine überragende Hauptdarstellerin, ein starkes Ensemble und eine kluge Dramaturgie können großes zeitgenössisches Theater schaffen. Jens Fischer fasziniert dabei die Ambivalenz der Hauptfigur in Lina Beckmanns Darstellung: „Gegen den Schmerz des Mobbings und Ausgegrenztseins der Figur massakriert sie tatkräftig drauflos und nutzt ihr verführerisch manipulatives Spiel zum lauten Nachdenken über die Darstellungskunst am Theater, balanciert dabei kraftvoll differenziert zwischen abgründig boshaftem und obergärig lustigem Verhalten, so mitleiderregend wirkt dabei das ungeliebte Kind, so treffsicher sind seine Analysen der verkommenen Gesellschaft, so nachvollziehbar ist die tödliche Verachtung für die Schmarotzer im Zentrum der Macht.“ Übrigens hat Lina Beckmann in DdB 10/2021 persönlich Szenen der Inszenierung kommentiert.
Drei weitere Inszenierungen kommen auf zwei Nennungen: Jan Philipp Glogers Regie von „Wolken.Heim/Rechnitz“ am Staatstheater Nürnberg, René Polleschs „Geht es dir gut?“, ebenso Fabian Hinrichs in der Hauptrolle an der Volksbühne Berlin; für Gunnar Decker ist das „ein gelungener Versuch, die drohende Depression in befreienden Ausdruck zu verwandeln“. Drittens ist da noch die schon oben erwähnte Regie Christopher Rüpings von „Das neue Leben“ am Schauspielhaus Bochum. Anne Fritsch fühlt sich ins Herz getroffen: „Rüping und sein Ensemble erkunden, was Liebe ist, was Liebe kann, was Liebe will. Ausgehend von Dantes Jugendwerk über eine unerfüllte Liebe schwingen sie sich ins Jetzt oder vielmehr ins Zeitlose, erzählen von einem Gefühl der Sehnsucht, der Erfüllung. Sie gehen durch die Hölle und landen schauspielerisch wie musikalisch im Himmel. Anders als vieles andere in diesen Zeiten enden sie mit einer guten Nachricht: ‚Es bleibt noch Zeit für dich und mich‘.“ Und Björn Hayer meint schlicht: „Das ist kein Theater, das ist ein Ereignis!“
Musiktheater
Mit drei Nennungen sind die Staatsoper Stuttgart und das Team Hauen und Stechen im Musiktheater vorn. Hartmut Regitz begründet seine Wahl so: „Wie politisch brisant die ‚Die Verurteilung des Lukullus‘ eines nicht allzu fernen Tages einmal werden könnte, konnte man im November des letzten Jahres natürlich nicht ahnen. Aber Franziska Kronfoth und Julia Lwowski inszenierten an der Stuttgarter Oper das Lehrstück von Bertolt Brecht und Paul Dessau nicht streng nach Plan, sondern als einzige Generalabrechnung mit allen Kriegen und machtlüsternen Herrschern – überbordend, fantasie- und bilderreich und dennoch dokumentarisch untermauert mit authentischem Videomaterial, das Vergangenes wieder gegenwärtig macht.“ Das klingt wahrlich nach zeitgenössischem Musiktheater.
Ein Beispiel für spartenübergreifendes Musiktheater – ausgeführt an einem Schauspielhaus – ist das mit zwei Nennungen neben anderen zweitplatzierte „Undine“ in Anna-Sophie Mahlers Regie am Schauspiel Leipzig: Tobias Prüwer beschreibt: „Unheimliches Musiktheater richtete Anna-Sophie Mahler am Schauspiel Leipzig mit ‚Undine‘ an. Mit klassischer Oper hat das nichts zu tun.“ Für Thilo Sauer ist das schlicht „ideales Stadttheater: lokal angebunden, mutige Bühnenerzählung mit Roboter-Hauptfigur und einem kleinen Hoffnungsschimmer“. Ebenso auf Platz zwei findet sich Martin G. Bergers Regie im Verbund mit Sarah-Katharina Karls Bühne von „Le Grand Macabre“ am Mecklenburgischen Staatstheater. Sören Ingwersen lobt: „Regisseur und Bühnenbildnerin setzen in György Ligetis greller Oper das Publikum mitten ins Geschehen.“ Ebenfalls zwei Nennungen verzeichnet „Tristan und Isolde“ an der Chemnitzer Oper in der Regie von Elisabeth Stöppler „mit einem herausragenden Daniel Kirch als Tristan. Sehr geschlossen inszeniertes Musiktheater, das den Stoff bis zur Kenntlichkeit modernisiert“, urteilt Gunnar Decker.
Ballett/Tanz
Vier Nennungen sind ein überragendes Ergebnis im vielfältigen Bereich Tanz. Florentina Holzinger, die bereits 2020 im Tanz Gewinnerin unserer Umfrage war, ist mit „A Divine Comedy“ nicht nur deshalb vorne, weil die Produktion an mehreren Orten zu sehen war. Anna Opel beschreibt „atemberaubende Momente eines durchweg nackten, durchweg weiblichen Ensembles, das Holz hackt und sich den Fallübungen live aussetzt und auf von der Decke hängenden Krafträdern turnt. Auch wenn hier die Grenze zum Kitsch und Trash mehrmals überschritten wurde, war dieses Erlebnis nachhaltig beeindruckend“.
Auf Platz zwei folgen Marco Goecke, Leiter des Balletts in Hannover, und Goyo Montero, Tanzchef in Nürnberg, allerdings jeweils mit unterschiedlichen Choreografien. Florian Welle schreibt zum Nürnberger Ballettdirektor: „Goyo Montero zeigt auch in dieser Spielzeit, dass seine Compagnie in Hochform ist. Wie frisch und frech wirken moderne Klassiker wie ,Secus‘ von Ohad Naharin oder ‚Handman‘ von Edward Clug, wenn man sie Montero und seinen TänzerInnen anvertraut. So geschehen in dem dreiteiligen Abend ,Naharin/Clug/Montero‘, der im April Premiere hatte.“ Zu nennen ist auch Eric Gauthier und das Tanzhaus Stuttgart, das bei Gesamtleistung kleiner Häuser auch genannt wird. Manfred Jahnke betont: „Gerne immer wieder, nicht nur für seine ausgefeilten Choreografien, sondern auch für seine starke Arbeit in die Öffentlichkeit hinein, seine tanzpädagogische Arbeit sowie seine internationale Vernetzung: Eric Gauthier.“
Bühne/Kostüme/Video/Sound
Die beiden Gewinner sind in dieser Umfrage keine ganz neuen Künstler:innen: Der Regisseur und Bühnengestalter Ersan Mondtag ist mit drei Nennungen ganz vorn, allerdings für drei unterschiedliche Inszenierungen. Insofern ist auch Katrin Brack bzw. ihre Bühne für (die auch im Schauspiel führende Inszenierung) „Richard the Kid & the King“ mit zwei expliziten Nennungen Gewinnerin der Kategorie. Wir haben die Kategorie erweitert, weil wir der Meinung sind, dass Video- und Sounddesign mittlerweile Theaterinszenierungen ähnlich stark prägen wie Bühne und Kostüme. Die Vergleichbarkeit ist damit schwieriger geworden, entscheidend sind für uns aber Erwähnungen wichtiger künstlerischer Ergebnisse in dem Bereich.
Über die „Richard“-Inszenierung haben wir schon unter Schauspiel gesprochen, Ersan Mondtags „Antikrist“ an der Deutschen Oper Berlin beschreibt Andreas Berger als „eine in drastischen Farben und Formen und Kostümen synästhetische Apokalypse“, was zweifellos Mondtags Bühnenwelten auch andernorts treffend beschreibt. Zu seiner anderen Operninszenierung, dem „Freischütz“ in Kassel, schreibt Ulrike Hartung: „Auch wenn Mondtag immer Bühnen- und Kostümbildner an seiner Seite hat, so bleibt seine persönliche Handschrift doch stets unverkennbar. Seine Bebilderung (Regie ist nicht das, was hier passiert) der deutschesten aller Opern ist so grell, grotesk und wahnhaft, dass man nicht anders kann, als vor seiner unerschöpflichen Fantasie den Hut zu ziehen.“
Junges Theater und Figurentheater
Diese Kategorie ist gänzlich neu. Ihrer Vermischung zweier Sparten haftet naturgemäß etwas Unbefriedigendes an; uns war aber wichtig, dass aus beiden Bereichen künstlerische Leistungen genannt werden können. Zudem passt diese Verbindung auch gut zur Moral aus dieser Umfrage, die da lautet: Grenzen überschreiten.
Grenzgänge sind im Kinder- und Jugendtheater wie im Puppentheater ohnehin ein zentrales Motiv, Manfred Jahnke lobt neben Hannah Biedermann im Jugendtheater das O-Team in Stuttgart im Bereich Puppentheater: „Das O-Team überrascht mit immer neuen Installationen, die sich mit Innovationen auseinandersetzen, die die Beziehung von Technik und Fortschritt einerseits, zugleich aber auch deren Verdrängung aus dem gemeinen Bewusstsein reflektieren. Zusammen mit Gästen wie Antje Töpfer entstehen dabei partizipative Formate, die nicht nur die ,Begehbarkeit‘ von Objekten ins Zentrum rücken, sondern mehr noch das Mit-Denken des Publikums herausfordern“. Auch in Rottenburg war Figurentheater zu sehen, das nach spannendem, zeitkritischem Theater klingt, wenn Thomas Morawitzky schreibt: „Die Figurenspielerin Janne Wagler, in Rottenburg Leiterin des Theaters Gobelin, verbindet in ihrem Stück ‚Arachne‘ eindrucksvoll mythologischen Stoff mit der Geschichte der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia, ermordet 2017 im Zusammenhang mit der Affäre um die ‚Panama-Papers‘, und dem Giftanschlag auf Alexei Nawalny. Das Stück konnte zunächst nur online präsentiert werden, feierte dann aber bereits im Juli 2021 Premiere in Tübingen, wurde seither von Wagler auf Tournee gezeigt.“
Und im Kindertheater lobt Melanie Suchy eine tänzerische Produktion, das Tanzsolo „200 Ways“ von Alfredo Zinola: „Der Tanz geht hier nah ran an die Kinder, bleibt aber er selbst, zum Anschauen und Mit-Fühlen. Und er erläutert sich selbst: wie Bewegungen entstehen und gelesen werden, ohne dass je ein Wort gesprochen wird.“
Der Vielheit der Kategorie entsprechend sind keine mehrfach genannten Produktionen zu finden. Als heimlicher Gewinner kann sich Christoph Werner fühlen, zum einen mit seiner Regie von „Kapitän Nemos Bibliothek“ bei den Schwetzinger Festspielen und mit der Nennung des Puppentheaters Halle. Zweimal genannt ist auch der Puppenspieler Nikolaus Habjan, in anderen Kategorien: einmal im Schauspiel, einmal in der Oper.
Nachhaltigkeit
Kann es in dieser neuen thematischen Kategorie Gewinner geben? Hier war jedenfalls weniger als in anderen Bereichen unser Ziel, strahlende Sieger zu küren, sondern eher das Thema und seine Bedeutung für die Theater zu umkreisen. Und es ist schon bemerkenswert, dass es in einigen Beiträgen nicht nur um schnödes Energiesparen oder Häusersanieren geht, sondern dass Nachhaltigkeit und Kunst auch inhaltlich zusammenkommen können. Andreas Berger berichtet vom Theater für Niedersachsen aus Hildesheim, dass dort drei Produktionen im selben Bühnenbild gespielt wurden: Dort „bestimmt jede Saison ein Thema die Auftaktproduktion in drei Sparten, in diesem Jahr ‚Medea‘ (als Oper von Pacini, als Schauspiel von Corneille und als Tanzstück von Donlon)“. Es wäre zu verfolgen, was das im Einzelnen für die drei Inszenierungen bedeutet.
Am Staatstheater am Gärtnerplatz in München fiel Vesna Mlakar die Balletturaufführung der Norwegerin Ina Christel Johannessen auf, „Der Sturm“: „Die Choreografin will Shakespeares letztes Meisterwerk ,The Tempest‘ in Kontrast zu unserer heutigen Konsumgesellschaft setzen. Ihr Stück ist irgendwo im Problemkosmos des Klimawandels zwischen Dürre und Überflutungen angesiedelt. Darüber hinaus wurde beim Bühnenbild und den Kostümen auf Verwendung von recycelbarem Plastik und nachhaltigen, abbaubaren Materialien Wert gelegt.“
Nachhaltigkeit halten unsere Autor:innen jedoch auch im Bereich Repertoire für wichtig. Guido Krawinkel lobt „alle, die hierfür Beauftragte eingesetzt haben, die das Thema vorantreiben“, aber auch „alle, die sich der künstlerischen Nachhaltigkeit widmen, das heißt auch unbekanntes Repertoire pflegen“. Und Jesper Klein nennt ganz konkret den „Nachspielpreis für Zweitaufführungen“ beim Heidelberger Stückemarkt. Die meistgenannten Häuser sind übrigens mit je zwei Nennungen das Schauspiel Stuttgart, das Theater Regensburg und das Staatstheater Augsburg mit dem Klimafestival „endlich“.
Erregungsmoment
Bereits weiter oben habe ich eine innere Vielstimmigkeit in Theaterkreisen und bei Kritiker:innen insgesamt beschrieben. Bei dieser letzten Frage zeigen sich nun an einem – eher kleineren – Skandal der Saison, wie unterschiedlich die Einschätzungen sind: Wolf-Dieter Peter beklagt „das völlig unangebrachte Empörungsgeschwurbel um das ja explizit entlarvte ‚Blackfacing‘ in ‚Jonny spielt auf‘ am München Gärtnerplatztheater – und das sofortige Einknicken der Theaterleitung, statt Kunstfreiheit zu verteidigen“. Konträr die Beurteilung – und beide haben den Vorfall ja ohne Kenntnis des anderen aufgenommen – von Hannah Schmidt: „Dass im März im Kontext einer Inszenierung am Münchner Gärtnerplatztheater ernsthaft wieder über Blackfacing debattiert wurde – als wäre das Thema nicht schon längst ausdiskutiert: Diese Praxis ist rassistisch, egal welcher ach so kluge Kunstgriff dahinterstecken mag.“ Auch Tobias Hell äußert sich zum Skandal um die Produktion und sieht beim Theater wie in Schnellschüssen in den sozialen Medien die Ursache: „Wegen der missglückten Auseinandersetzung mit dem problematischen Thema Blackfacing. Aber auch wegen der (meist ohne vorherigen Vorstellungsbesuch) via Ferndiagnose geäußerten Forderungen zur Absetzung der Produktion in den sozialen Medien. Ein ebenso vorhersehbarer wie vermeidbarer ‚Skandal‘, durch den eine spannende Ausgrabung allzu schnell wieder begraben wurde.“
Wohl allen Kritiker:innen liegen die Pandemie und ihre Auswirkungen auf den Publikumszuspruch schwer auf der Seele. Joachim Lange beklagt „die Ungewissheit, ob es gelingt, nach den Lähmungen der vergangenen beiden Spielzeiten wieder zu einem normalen Spielbetrieb und einer akzeptablen Publikumsresonanz zurückzufinden“. Volker Oesterreich empfiehlt daher, „dass Theater Freiräume, speziell für Geist und Gemüt, bieten und vom Häuflein der Kulturjournalisten, also von uns, besser vermittelt werden muss. Dabei dürfen wir uns freilich nicht zum Werkzeug der PR machen lassen“. Manfred Jahnke wiederum erkennt eine allgemeine Verunsicherung, gepaart mit der Sehnsucht nach Theater: „Nach viel zu langem Lockdown wieder im Zuschauerraum: neugierige Lust auf Theater – und doch Angst, in diesem dunklen Raum mit vielen anderen Menschen zu sitzen: unheimlich. Lust und Schauder.“ Das gilt als Schlusswort. Das Theater lebt, muss um sein Leben kämpfen und hat dabei am besten keine Angst vor Mord, Totschlag und den großen Themen.
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Hier die zehn Fragen, die 52 unserer freien Autor:innen beantwortet haben:
1. Gesamtleistung eines großen Hauses: Nennen Sie hier bitte ein Theater (Mehrspartenhaus oder größeres Einspartenhaus), das Sie mit einem künstlerisch ambitionierten Programm beeindruckt hat.
2. Gesamtleistung eines kleineren Hauses: Nennen Sie hier bitte ein kleineres Theater (kleineres Stadttheater, Landesbühne, freie Szene, Off-Bühne oder Privattheater), das Sie trotz begrenzter Ressourcen mit einem künstlerisch ambitionierten Programm beeindruckt hat.
3. Ungewöhnliche und überzeugende Leistung mit digitalen Formaten: Nennen Sie hier bitte ein Theater, einen Künstler/eine Künstlerin oder ein Team, der/die/das Sie mit einer digitalen Produktion ästhetisch beeindruckt hat. Hier können Streams ebenso wie digitale Liveproduktionen mit oder ohne Publikum genannt werden.
4. Besondere künstlerische Leistung im Schauspiel: Nennen Sie hier bitte einen Künstler/eine Künstlerin oder ein Team, der/die/das mit Darstellung, Inszenierung oder innovativen Ideen die Sparte Schauspiel bereichert hat.
5. Besondere künstlerische Leistung im Musiktheater: Nennen Sie hier bitte einen Künstler/eine Künstlerin oder ein Team, der/die/das mit Darstellung, Inszenierung oder innovativen Ideen die Sparte Musiktheater bereichert hat.
6. Besondere künstlerische Leistung im Ballett/Tanz: Nennen Sie hier bitte einen Künstler/eine Künstlerin oder ein Team, der/die/das mit Darstellung, Choreografie oder innovativen Ideen die Sparte Ballett/Tanz bereichert hat.
7. Bühne/Kostüme/Video- und Sounddesign: Nennen Sie hier bitte einen Künstler/eine Künstlerin oder ein Team, der/die/das Sie in den Bereichen Bühnen- oder Kostümbild, Video- oder Sounddesign besonders beeindruckt hat. Hier sind keine Streams, sondern Liveproduktionen zu nennen!
8. Besondere künstlerische Leistung Junges Theater und Figurentheater: Nennen Sie hier bitte einen Künstler/eine Künstlerin oder ein Team, der/die/das mit Darstellung, Inszenierung oder innovativen Ideen das Kinder- und Jugendtheater oder das Figurentheater bereichert hat.
9. Ein Theater, das sich in Sachen Nachhaltigkeit engagiert: Nennen Sie hier bitte ein Theater, das sich in künstlerischen Produktionsprozessen oder der Verwaltung mit Nachhaltigkeitsstrategien befasst hat (etwa in Sachen Mobilität oder Ressourcen-Umgang).
10. Größter Erregungsmoment: Nennen Sie hier bitte Ihren persönlichen Erregungsmoment der vergangenen Spielzeit, der sowohl negativ als auch positiv sein kann.
Wir bedanken uns bei unseren Autorinnen und Autoren für die Teilnahme!