Rudolstadt–Berlin und zurück

Nach 14 Jahren als Intendant des Theaters Rudolstadt hat Steffen Mensching einen eigenen Blick auf die Kultur in der thüringischen Provinz – und auf die Hauptstadtkulturblase

aus Heft 12/2022 zum Schwerpunkt »Heimat Osten«

Nur wenige Freunde verstanden, warum ich 2008 der boomenden Hauptstadt den Rücken kehrte und nach Thüringen zog. Was willst du da?, lautete die Frage. Es klang wie: Bist du lebensmüde? Das P-Wort auszusprechen wagte niemand, nur ein Kollege, der in Militärgeschichte dilettierte, versteckte die Häme in einem Zitat: „Alle Bewegung kommt aus der Provinz“, behauptete er und klopfte mir jovial auf die Schulter. Der angebliche Clausewitz-Ausspruch sollte meine baldige Rückkehr heraufbeschwören. Offenbar verwechselte er meine kulturelle Mission mit einem Feldzug, bei dem ich bluten würde.

Weder er noch ich ahnten damals, dass ich vierzehn Jahre in der Diaspora ausharren sollte. Obwohl meine Abwesenheit inzwischen fast so lange dauert wie Odysseus’ Trip nach Troja hin und zurück, habe ich den Entschluss nie bereut. Solch Geständnis verlangt eine Erklärung: Was ist so sexy an der ostdeutschen Provinz, und warum will niemand da hin? Man könnte mutmaßen, die Pampa, die beharrlich am Gestern festhält, gewönne an
Attraktivität, je konfliktreicher die Gegenwart wird. Hatte ich meine Geburtsstadt nicht aus genau dem Grund verlassen, weil mir das jungdynamische Selbstbewusstsein des hauptstädtischen Kulturbetriebs die kreative Laune verhagelte?

Rudolstadt empfing mich mit Neugier, wenn auch nicht mit Vorschusslorbeeren. Im Gegenteil, meinem guten Ruf waren drei skeptische Vorurteile vorausgeeilt: Kleinkünstler, Schriftsteller, Berliner. Ich habe nie herausgefunden, welches Etikett mir den Start am meisten erschwerte. Von Stadttheater hatte ich nachweislich keine Ahnung, doch holte ich mir einen Chefdramaturgen als Kopiloten ins Cockpit, der mit dieser Erfahrung gesegnet oder gestraft war. Wir hatten einen Traum: Wir wollten intelligentes, unterhaltsames, modernes Theater für eine Kleinstadt entwickeln, für die kleinen und großen Bürger dort, nicht für das hippe Feuilleton.

Ich darf behaupten, dass uns dies teilweise glückte: In vierzehn Spielzeiten besuchten uns drei Journalisten überregionaler Zeitungen, zwei wussten, wo sie sich befanden, der dritte sprach beharrlich von Rudolfstadt, ein Lapsus Linguae, auf den Eingeborene stets gereizt reagieren, der ihm aber nicht auffiel. Die Reporter waren nicht angereist, um etwaige theatralische Leistungen zu bewundern, zu besprechen oder zu kritisieren, sondern um unseren antifaschistischen Kampf zu begleiten. Sie wollten im Krisengebiet erfahren, wie man mittels Mimesis die Demokratie verteidigt.

Der journalistische Ansatz war berechtigt. Standen wir nicht tatsächlich an der Front? Soziologen behaupten, die Entscheidung über das Wohl und Wehe der Republik falle im ländlichen Raum. Dort lebt die Mehrheit der Wähler. In Ostdeutschland gibt es mit viel gutem Willen neun Großstädte. Der Rest ist Fläche, die berühmte mühsame Ebene. Ja, man müsse die strukturschwachen Gebiete finanziell unterstützen, stärker beachten, versicherten die urbanen Journalisten, man müsse mehr tun, ja, sie würden in Kürze wiederkehren, um tiefer in den Alltag in der Provinz einzudringen. Ein einziger machte sein Versprechen wahr, nahm sich die Zeit und reiste von Hamburg an, als Pfarrersohn aus Rathenow war der Mann nicht repräsentativ, er kehrte quasi an seinen Ursprung zurück.

Mir brachten die Reportagen eine Einladung nach Berlin ein, ich sollte im Ballhaus Naunynstraße mit anderen Kulturexperten die rechte Gefahr besprechen. Als ich berichtete, wie wir in der Flüchtlingskrise Flagge gezeigt, uns gegen Naziaufmärsche gewehrt hatten, bekam ich artigen Applaus, allerdings wurde mein Standing auf dem Podium jäh erschüttert, als ich orakelte, ein Teil unserer Zuschauer müsse AfD-Wähler sein, da jeder Vierte in Rudolstadt bei der Partei sein Kreuzchen machte, ich müsse also mit diesen Leuten rechnen, auch ihnen ein Programm anbieten. Im Saal entstand Unruhe, das kam nicht gut an, klare Kante war gefragt, Abgrenzung statt Anhörung. Das Theater als Schutzraum, in dem Rechte nichts zu suchen hatten.

Unter Druck geratend, wagte ich den Einwand, die Reaktion erinnere mich an die selige DDR, wo man sich auch beharrlich weigerte, anderen Meinungen argumentativ zu begegnen, sondern Störern die Tür wies, zum Beispiel die Tür im europäischen Eisernen Vorhang. Der Vergleich mit dem staatlich organisierten Osten war Öl ins Feuer der erregten Berliner Szene. Ich glaubte, den Ruf „Weichei!“ gehört zu haben. Weder die ehemals grün-alternative Kultursenatorin Hamburgs noch der amtierende linke Berliner Staatssekretär sprangen mir zur Seite, nur ein türkischer Psychologe und Sozialarbeiter aus Kreuzberg meinte, ihm ginge es ähnlich, er wüsste wohl, wer in seinem Kiez mit den Grauen Wölfen sympathisiere, doch könne er sich nicht leisten, diese Leute zu ignorieren.

Eine deprimierende Begegnung. War mir die Heimatstadt fremd geworden oder ich ein Fremder in Berlin? Auf der Rückreise – der Regionalexpress passierte gerade die Industrieruinen von Weißenfels – fragte ich mich, ob ich, ohne es zu bemerken, zum Provinzler mutiert war und was diesen Typus eigentlich ausmachte? Was unterschied ihn vom Weltbürger? In der Welt (meiner Heimat Berlin) lebten Menschen, die, so meinten sie, die Komplexität aller Verhältnisse im Blick hatten, in der Provinz (meiner Wahlheimat) dümpelten bornierte Existenzen vor sich hin, die sich die Welt mit simplen Antworten zurechtrückten. Stimmte das? O ja, ich kannte meine Pappenheimer (die Rudolstädter, Saalfelder, Königseer) und wusste, ihre Toleranz hatte Grenzen, ihr Kunstgeschmack auch, Dekonstruktion hielt man dort für eine Bauleistung, Postmoderne bedeutete, dass man seine Amazon-Pakete im Zeitungskiosk abholte, der Begriff Avantgarde weckte böse Erinnerungen an die SED-Kreisleitung. Man hatte keine Ressentiments gegen Ausländer, man wollte nur, dass sie in ihrer Heimat blieben. Ruhe war die erste Bürgerpflicht.

Zugegeben, das war eine einseitige Beschreibung der Lage, hätte es in der Provinz keine Gegenkräfte gegeben, wäre unser Wirken ergebnislos verlaufen, hätte uns niemand gehört oder gebraucht. Wir waren keine Missionare, die den Eingeborenen die demokratischen Spielregeln vermitteln wollten. Wir erprobten ästhetische Irritationen, die nicht nur verstörten, sondern auch unterhielten, erzählten Geschichten von Respekt, Gemeinsinn oder Nächstenliebe, suchten uns Partner in Vereinen, Parteien, Schulen, Kirchgemeinden, Familien und Firmen. Wir lernten eine Menge, unter anderem, dass wir nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen hatten, dass unsere Ambitionen ins Leere liefen, wenn sie den Geschmack und die Erwartungen des Publikums ignorierten. Aus diesem Grund entschieden wir uns für „Pension Schöller“, nicht für „Peer Gynt“, und setzten statt auf Sibylle Berg auf Heinz Erhardt. Wir entwickelten Stoffe, die populär waren und aus der Region stammten: die „Schicksalssinfonie“, ein Stück über unser Orchester, einen Wanderabend oder eine Hymne auf die lokalen Fußballmatadore: „Der Aufstieg der Amateure“. Auch schwere Kost wurde volkstümlich serviert, „Faust I“ mit großem Orchester und Bürgerchor oder „Die Bibel“ und „Der Meister und Margarita“ in einer Adaption von Niklas Rådström. Unser Elfenbeinturm war ein Kulturhaus, ein Dienstleister, der in die Pflicht genommen werden wollte. Für viele in der Region wurden wir zu verlässlichen Freunden, für andere blieben wir linkes Gesocks.

Als die Dornburger Schlösser bei Jena in Sicht kamen, dachte ich: Bist du so weit, dass du die Maxime „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ ernster nimmst als die hehre Losung von der Kunstfreiheit? Mit diesen Gedanken nickte ich ein und fiel in einen kurzen, grausamen Traum. Uschi, die ehemalige Opernsängerin, die an unserer Bühne im Besucherservice und als Diseuse gearbeitet hatte, sang in brüchigen Koloraturen, aber mit ihrer Berliner Schnauze: „Jetz möjen se dir noch und jubeln dir zu, aber eenes Tajes wird man ooch dir aus de Stadt vatreiben.“ Mein Intendantenstuhl wackelte wie ein seekrankes Schaukelpferd. Sprechchöre skandierten: „Der Rost brennt! Der Rost brennt!“ Eine grobe Hand packte meine Schulter. „Sie müssen hier raus!“ Ich schlug die Augen auf. Es war der Zugbegleiter, der mich aus dem Sitz zog und zum Ausgang dirigierte, er trug mir den Koffer hinterher und schubste mich grob auf den Perron. Einsam stand ich auf dem leeren Bahnsteig der Residenz Rudolstadt, aus einem grauen Himmel fielen dicke, nasse Flocken. Der Zugbegleiter rief mit spitzer Stimme: „Endstation Sehnsucht“. „Tennessee Williams“, erwiderte ich matt, „so was läuft hier nicht“. Dann erst erkannte ich den Eisenbahner, er war ein treuer Abonnent.