Drei Jahre lang wird es jeweils eine große Premiere pro Spielzeit zum Thema geben, für die erste Produktion „Noostopia“ hat das Theater mit dem freien Choreographen Moritz Ostruschnjak und dem Medienkünstler Martin Backes zusammengearbeitet. Ostruschnjak hat sich bereits zuvor künstlerisch mit Digitalisierung beschäftigt, ohne jedoch digitale Techniken explizit zu nutzen. Auch für ihn, der sich in seinen Stücken sonst sehr auf den Körper konzentriert, war das Projekt also etwas ganz Neues. Ähnlich wie Sandroni bewegte ihn schon in der Konzeptionsphase das Verhältnis des Menschen zur Technosphäre: „Die Überlegung war: Was wäre denn das Gegenteil von Technik? Da kommt man relativ schnell auf das Thema Natur. Man betrachtet beides immer getrennt voneinander, was aber im Prinzip gar nicht richtig ist. Die neuen Techniken kommen ja nicht vom Mond, sondern die haben wir erfunden. Insofern sind sie Erweiterungen unseres Körpers.“ So rückte das philosophische Next-Nature-Konzept in den inhaltlichen Fokus. Begründet von dem Niederländer Koert van Mensvoort, legt es nahe, unsere komplexe und omnipräsente technologische Umgebung als eigenständige „nächste“ Natur wahrzunehmen. „Wir wollten von der Einstellung weg, dass Technik ,böse‘ ist“, so Moritz Ostruschnjak.
„Die Überlegung war: Was wäre denn das Gegenteil von Technik?“
Choreograph Moritz Ostruschnjak
In „Noostopia“ liegen, stehen und laufen neben den Tänzern Roboter-Äste auf der Bühne, die als Hybride konstruiert sind: Der Programmierer Michael Ang hat die Äste im Wald gesammelt und mit Motoren und Gelenken versehen, so fungieren sie gleichermaßen als natürliche und choreographische Objekte. Pneumatische Pilze und Musikroboter spielen Soundscapes von Martin Backes ab, die die „digitale Landschaft“ im Bühnenbild von Thilo Ullrich vertonen. Das wiederum besteht aus zahlreichen geometrisch geformten, auf den ersten Blick natürlich wirkenden Objekten. Deren Künstlichkeit entlarven die Tänzer, indem sie beispielsweise riesige Felsbrocken oder Beete mit Gräsern einfach anheben und umhertragen. Zunächst bewegen sich die Ensemblemitglieder bisweilen tierähnlich durch die künstliche Natur der Bühne. Moritz Ostruschnjaks Choreographie ist geprägt von Leichtigkeit, Flexibilität und einer gewissen Portion Humor: Wie auf einem Catwalk lässt er die Tänzer die künstlichen Objekte präsentieren, verweist so explizit auf den vermeintlichen Charakter einer Modeerscheinung. Erst nach einer Weile beginnen die Äste, sich zu bewegen – überdeutliches Entsetzen auf den Gesichtern der Tänzer, doch dann: Neugier, Erkundung, gemeinsamer Tanz. Die langsame Annäherung, nahezu Verschmelzung von Mensch und Maschine, die Ostruschnjak mit vielfältigen Ensembleszenen ausschmückt, ist anschaulich, gar berückend. Dass das digitale Erleben den Wunsch nach analoger sozialer Begegnung wecken kann, wird deutlich, wenn sich die Tänzer in Pas de deux innig umarmen. Moritz Ostruschnjak spricht von einem Feedbackloop, „der dazu führt, dass die digitale Erfahrung uns dazu bringt, uns wieder reell zu begegnen. Tanz hat viel mit experience zu tun, das wird natürlich besonders wichtig in einer Zeit, in der man vermehrt vorm Bildschirm sitzt und körperlich nicht mehr so viel erfährt“. Das zehnköpfige Ensemble wirkte vollständig bei der Produktion mit, die Neugier auf die Arbeit mit den Robotics war bereits im Probenprozess sehr groß: „Die Tänzer hatten keine Berührungsängste, waren sehr neugierig. Es kamen eher Fragen wie ,Kann ich da reinbeißen?‘“, berichtet Ostruschnjak.
Diese Offenheit ist keineswegs selbstverständlich. Zahlreiche aktuelle Tanzproduktionen verhandeln das Thema Digitalisierung kritisch, nehmen eher die Dominanz der Technik in den Blick. Um digitale Themen und Techniken ernsthaft aufzugreifen, ist jedoch eine differenzierte Sicht auf die Dinge notwendig. Davon ist Tanzdramaturgin Janett Metzger überzeugt: „Diese Angst und dieses Urteil, zu sagen, die Natur ist das Gute und die Technologie das Schlechte, das bringt uns nicht weit. Zwar ist eine Skepsis berechtigt, weil die Technologien, die wir als Normalsterbliche vielleicht nicht immer verstehen und deren Tragweite wir uns womöglich gar nicht bewusst sind, unseren Alltag durchdringen. Wir dürfen davor Angst haben, aber wir sollten mit Neugier und Offenheit darangehen – und mit dem Wissen, dass der Mensch derjenige war, der diese Technosphäre erschaffen hat. Man muss sich also stärker der Rolle bewusst werden, die wir darin einnehmen.“
„Diese Angst und dieses Urteil, zu sagen, die Natur ist das Gute und die Technologie das Schlechte, das bringt uns nicht weit.“
Dramaturgin Janett Metzger
Die Produktion „Noostopia“, aber auch das auf drei Jahre angelegte Neue-Wege-Projekt hat große finanzielle Dimensionen: Rund 1,9 Millionen Euro erhält das Theater Bielefeld für die Projekte in allen drei Sparten, rund 765000 Euro davon fließen in den drei Jahren an die Tanzsparte. Entsprechend hoch ist dadurch der Anspruch an die Qualität der technischen Ausstattung: Schließlich soll es, so betonen sowohl Simone Sandroni als auch Janett Metzger, nicht um Effekthascherei gehen. „Das ist schon sehr komplex, Maschinen sind nicht so flexibel wie Menschen. Es muss alles extra programmiert werden, zugleich muss es nachher im Theater jemand normal fahren können, ohne dafür zehn Jahre Silicon-Valley-Erfahrung zu haben“, kommentiert Moritz Ostruschnjak.
Warum wählte das Theater dafür nicht die große Bühne, sondern das TOR 6 Theaterhaus, eine ausgelagerte Off-Bühne, die nicht einmal zum Theater gehört? Tatsächlich ist die Produktion ein Experiment für alle Beteiligten, technisch, aber auch künstlerisch: nicht nur, weil Ostruschnjak aus der freien Szene kommt, sondern auch, weil „wir in einen Bereich gehen, wo wir die Formate ändern und etwas machen, was sonst in der freien Szene üblicher wäre oder was der Zuschauer eher im Festivalkontext erlebt“, so Janett Metzger. „Im TOR 6 sind wir in fast jeder Spielzeit mit einer unserer Produktionen. Die Bühne ist ideal für Tanz. Wir sind hier sehr nah am Publikum. Außerdem haben wir mehr Probenzeit als auf der Stadttheaterbühne, da dort der Aufführungs- und Probenbetrieb sehr eng getaktet ist“, sagt Simone Sandroni. Tatsächlich wird bei Produktionen wie diesen auch der Stadttheaterapparat auf seine Flexibilität hin geprüft: „So ein Projekt gibt viele Anstöße, auch langfristig. Es stellt einen vor verschiedenste Aufgaben, und man muss auf lange Sicht darüber nachdenken: Wie sind wir als Theater, und zwar als geschlossene Struktur ohne etwaige Dienstleister, eigentlich in der Lage, solche Projekte zu bewerkstelligen“, so Janett Metzger. Ehrlichkeit in jeder Hinsicht: „Man spürt natürlich auch Vorbehalte in sich selbst, denn das sind Herausforderungen, die wirklich vollkommen neu sind.“ Am Theater Bielefeld trifft man auf eine ganzheitliche Herangehensweise. Nach drei Jahren Wissens- und Erfahrungsakkumulation will man überlegen, ob eine Verstetigung des Projekts beantragt wird, natürlich auch abhängig davon, wie neugierig das Publikum bleibt. Bisher scheint es das zu sein.
„Als zeitgenössische Tanzcompagnie möchten wir das, was in der Gesellschaft passiert, politisch verhandeln und nicht Trends und Moden hinterherjagen.“
Tanzchef Simone Sandroni
Und welche Pläne gibt es für die nächste Produktion? „Im ersten Projekt war der Gedanke grundlegend, zu sagen, wir entwickeln das Konzept für die digitalen Medien aus dem inhaltlichen Konzept. Für das nächste Stück wünschen wir uns eine Technologie, die noch präsenter ist und stärker in die Choreographie eingreift. Wir erwägen sogar, uns vorab für eine Technologie zu entscheiden“, sagt Janett Metzger. Erprobt wird also auch, wie flexibel sich die Kunstform Tanz im Umgang mit verschiedenen Technologien erweist. „Der Tanz kann in die Idee der Digitalisierung eintauchen – im politischen, im ästhetischen und im technischen Sinne“, sagt Simone Sandroni. Da wird er wieder spürbar: der Mut, visionär zu denken. „Wir müssen bereit sein, alles zu tun. Das ist die Voraussetzung für ein Abenteuer genau wie für zeitgenössische Kunst.“