Sandra Rasch: Wir hatten letzte Woche im Jungen Theater Premiere von „Valentino Frosch“, ein Stück in Gebärden- und Lautsprache mit tauben und sprechenden Schauspieler:innen. Es war wunderbar zu sehen, wie das für alle – auch im Publikum – funktioniert hat.
Anett Kaplan: Mein letztes Theatererlebnis war in Neuss „Der Trafikant“; ich war begeistert! Es war sehr charmant umgesetzt – mit selbst gemachten Geräuschen der Schauspieler:innen. Ausverkauft war es auch.
Manuela Jakobs: Ich liebe die Privattheaterszene hier in Köln und hatte einen Abend im Metropoltheater, ein Liederabend mit einem kleinen Publikum von nur 15 Leuten. Aber es gab Standing Ovations, und alle waren begeistert!
Christian Tombeil: Der Ausdruckswille des Publikums hat sich wirklich verändert: Es gibt mehr Standing Ovations. Wir hatten in Essen viele Gespräche mit Leuten, die sagen: „Wir sind nun wieder hier und wollen uns auch ausdrücken!“ Die wollen etwas zurückgeben und sind so dankbar. Bei Elfriede Jelineks „Lärm“ gab es nach 10 Minuten Szenenapplaus. Bei Jelinek! Im Schauspiel!
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Was macht für Sie eine gelungene Inszenierung aus, aus der Sie herausgehen und sagen: „Das ist mein Theater“?
Anett Kaplan: Für mich können das viele kleine Dinge sein: ein bekanntes Stück, das man gelesen hat und wo sich Verbindungen herstellen. Oder ich gehe, um einen bestimmten Schauspieler zu sehen. Man lässt sich immer überraschen. Zuletzt war ich in einer Kinderoper, in die ich alleine nie gegangen wäre – ich fand es gar nicht gut, aber das Bühnenbild war toll, und davon waren meine Kinder begeistert. An erster Stelle steht für mich immer die schauspielerische Leistung.
Sandra Rasch: Da spielt viel rein: die Atmosphäre im Raum, ein Lichtkonzept, die Spannung im Publikum. Schwer zu sagen, es gibt keine starren Regeln, nach denen ich für mich sagen kann, wann etwas gelungen ist.
Manuela Jakobs: Ich finde ein Theaterstück gelungen, wenn ich alleine nach Hause fahren will. Wenn ich beeindruckt bin, möchte ich erst mal drei Stunden nachdenken. Idealerweise erinnere ich mich dann Monate später noch an Details.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Was ist für Sie als Intendant eine gelungene Inszenierung?
Christian Tombeil: Wenn 16-Jährige hinterher anfangen, untereinander zu diskutieren, warum Nathan im Stück von einer Frau dargestellt wurde, oder wenn jemand kein Nachgespräch möchte, weil er emotional so gefangen ist und erst mal alleine nachdenken möchte, dann ist etwas gewonnen.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Jenseits der Inszenierung: Welche Rolle spielt denn das Ambiente des Abends? Der Anfahrtsweg, eine nette Pausengastronomie, die Räumlichkeiten?
Anett Kaplan: Das Ambiente ist ganz entscheidend! Theater ist mehr Gesamterlebnis als Kino. Ich bin sehr architekturinteressiert, das Aalto Theater oder das Bochumer Schauspielhaus – in solche Häuser geht man gern. Gegenbeispiel ist das Düsseldorf Festival, das in einem Zelt stattfindet – mit tollen Produktionen. Aber dort will man eigentlich nicht länger als nötig sein. Und natürlich ist es toll, wenn ich in Essen das Parkhaus kostenfrei nutzen kann.
Sandra Rasch: Es ist auch eine Frage der Willkommenskultur. Die Räume kann ich vielleicht nicht ändern, aber wie gehen die Leute auf mich zu? Wie werde ich begrüßt? Es gibt diese großen Theaterhäuser, aber wie kriegt man die Leute da überhaupt rein?
Manuela Jakobs: Für viele, besonders für Ältere, ist die Erreichbarkeit ein Thema. In Köln gibt es bei vielen privaten Theatern ein riesiges Parkplatzproblem; oft höre ich, dass Leute wieder umgedreht sind, weil sie einfach keinen Stellplatz gefunden haben. Andererseits bestehen Barrieren für beeinträchtigte Zuschauende mit Rollator oder Körperbehinderung. Wo kann man mit E-Rollstühlen rein und hat noch dazu eine Toilette? Schon zwei Stufen bedeuten dann das Aus. Viele Häuser haben einfach nicht die Mittel für solche Umbauten.
Christian Tombeil: Was Sie beschreiben, ist ein wichtiger Punkt, bei dem man unterscheiden muss zwischen privaten und subventionierten öffentlichen Theatern, die da andere Möglichkeiten für Umbauten haben. Das Ambiente spielt eine Rolle, aber manche Leute sagen mir mittlerweile auch, sie hätten für die Karte schon so viel bezahlt, könnten sich den Sekt dazu gar nicht mehr leisten und kommen deshalb erst drei Minuten vorher. Bei uns in Essen spielt im Moment die oberste Rolle das Geld. Manche Lehrer kommen zu mir und sagen: „Ich kann keine 6,60 Euro von den Eltern verlangen, die werden Nein sagen.“ Wir haben einen aus der Wirtschaft gespeisten Sozialkartenfond. Der hat früher eine ganze Spielzeit gereicht, jetzt ist er im Dezember leer. Das ist die Wahrheit. Für eine vierköpfige Familie werden Sie 80 Euro los – im Kindertheater, nicht im Ballett oder Musiktheater! Da werden inzwischen einige Familien dasitzen und sagen: „Weihnachtsessen, Kino oder Theater, es geht nur eins davon, sucht euch etwas aus.“
Anett Kaplan: In meinem Schul- und Arbeitsumfeld sind genügend Leute, die das Geld hätten. Wenn ich denen erzähle, ich war im Theater, sind durchaus einige interessiert. Die Leute fragen nach Empfehlungen, aber ohne Tipps gehen sie nicht hin. Das hat nichts mit der Pandemie zu tun, das war vor fünf Jahren genauso.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Aber wenn Sie ein Kollege oder eine Kollegin fragt: Was ist das Besondere daran, warum sollte ich überhaupt ins Theater gehen …?
Anett Kaplan: Oft ist es wirklich die persönliche Empfehlung: Eine Kollegin fragte mich neulich nach einem Tipp und war dann mit ihren Eltern in „Vier neue Temperamente“ (Anm. d. Red: Ballett an der Rheinoper). Ihr ging es einfach um die Frage: Versteht das ein normaler Mensch? Man darf den Respekt der Leute vor Theater nicht unterschätzen, die sonst gerne „Tatort“ und Kino gucken und sich nicht in die Oper trauen.
Sandra Rasch: Ich würde nie eine Inszenierung bewerten. Die Angst vor dem „Verstehe ich das?“ ist groß. Das hat viel mit Konventionen zu tun. Für mich funktioniert Theater, wenn es schafft, beim Publikum Reaktionen zu erzeugen. Es geht um die Leerstellen, in denen jeder etwas anderes erfahren kann. Es geht nicht ums Verstehen, sondern ums
gemeinsame Erlebnis.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wie wünscht sich das Publikum informiert zu werden? Welche Kanäle funktionieren gut: Social Media, klassische Flyer oder Plakate?
Anett Kaplan: Ich bin immer wieder überrascht, wie die Empfehlung einer einzigen Person übergeht in den sicheren Kartenkauf von zwei, drei anderen Personen. In Düsseldorf werde ich auch stark durch Plakate angesprochen – das funktioniert bei mir. Bei Social Media muss man sehen, in welchen Zielgruppen man festhängt. Wo sind meine Kolleg:innen? Die kommen gar nicht ins Theaterfoyer, um irgendwelche Flyer zu finden.
Christian Tombeil: Da benennen Sie den entscheidenden Punkt: Sie empfehlen etwas!
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wie informieren Sie denn in der Theatergemeinde Ihr Publikum?
Manuela Jakobs: Wir schreiben regelmäßig alle Abonennt:innen per Post an und haben unser Jahresheft. Und wir versuchen es mit sozialen Medien. Auf unserem Instagram-Account sieht man aber, dass uns eher die Kulturschaffenden selbst folgen, nicht das Publikum …
Anett Kaplan: Könnte man nicht Freikarten verschicken an prominente Influencer? Wenn eine 25-jährige Influencerin mit lokaler Reichweite zwei kostenlose Karten bekäme und einbinden würde in ihre Story …? Experimentiert man damit?
Christian Tombeil: Das machen wir mit unseren Spielclubs, und das funktioniert super, wenn auch nicht über unsere eigenen Kanäle. Wenn die Jugendlichen sich in Nachgesprächen mit den Schauspieler:innen fotografieren. Aber aus der Aboklientel zwischen 55 und 100 ist keiner bei Facebook. (Von Twitter wollen wir uns grad aus politischen Gründen trennen.) Beim Publikum, von dem wir noch leben, funktioniert E-Mail. Wir haben einen klassischen Newsletter, die Leute wollen lesen, dass die Primaballerina ihr zweites Kind bekommt. Ansonsten haben wir die spartenspezifischen Leporellos eingestampft und geben nur noch ein Spielzeitheft heraus.
Sandra Rasch: Beim jungen Publikum geht man natürlich über die theateraffinen Erzieher:innen und Lehrer:innen. Wobei durch den hohen Krankenstand momentan oft nicht genug Personal zur Begleitung der Vorstellungen da ist. Im ländlichen Raum sind
inzwischen sogar die Buskosten manchmal zu hoch.
Anett Kaplan: Was Social Media angeht, muss man sich nichts vormachen. Ein Theaterkanal landet vermutlich nie bei den 25-Jährigen im Feed. Insofern geht es immer um die größere Reichweite. Oder jemand sagt: Ich war da, und es war großartig.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Man muss also schaffen, das Publikum zu erreichen. Aber die Schwellenangst vieler ist ein echtes Problem. Zahlreiche Theater der Gründerzeit wirken mit ihrem Säulenvorbau verschlossen …
Manuela Jakobs: Deshalb finde ich es so interessant, was das Schauspiel in Düsseldorf mit seinem offenen Foyer macht: Die Häuser zu öffnen als Begegnungsort ist eine grandiose Idee, damit fällt die Hemmschwelle.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wenn das Publikum dann einmal da ist: Was steht heute im Zentrum von Vermittlung?
Sandra Rasch: Für mich ist Vermittlung künstlerische Praxis. Verschiedene Formate sind wichtig, aber vor allem Stückentwicklungen von und mit Kindern und Jugendlichen, damit sie ihre Themen selbst theatral bearbeiten können. Jetzt nach Corona kommen oft Anfragen nach Angeboten für sozialen Zusammenhalt und Gruppenbildung.
Christian Tombeil: Ich kann das nur bestätigen, wir haben explosionsartig Anfragen für Lehrerfortbildungen! Es gibt mehr Lehrer:innen, als wir denken, die wissen, was Theater kann.
Anett Kaplan: Es scheinen also die jungen, institutionalisierten Gruppen zu funktionieren und die Älteren. Aber dazwischen ist das große Loch. Am Geld scheint es nicht zu hängen: Phantasialand brummt, für Kindergeburtstage wird enorm viel Geld ausgegeben. Aber was wollen die Leute? Ich erlebe: Sie wollen etwas Beeindruckendes erzählen können.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: In der Theatergemeinde betreuen Sie ja, um ehrlich zu sein, auch überwiegend Schüler und Rentner, wie lösen Sie das Problem der Alterslücke?
Manuela Jakobs: Das ist eine große Herausforderung, auf die wir momentan keine Antwort haben. Ich teile aber die Einschätzung: Die Leute wollen etwas erzählen können …