DIE DEUTSCHE BÜHNE: Gab es auch Sorgen, dass man im fremden Bereich zu stark gefordert wurde?
Davíd Gaviria: Zum Start überwog die Freude. Gegen Ende der Probenzeit hat man dann auch gemerkt, dass man etwas mehr Zeit braucht als in einem Bereich, mit dem man sehr vertraut ist. Ein Schauspieler kommt mit einer Choreografie nicht so schnell klar wie ein Tänzer, genauso ein Tänzer mit den Texten. Generell gab es aber viel Geduld und ein großes Verständnis für die anderen.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wie kam die Produktion beim Publikum an?
Julia Araújo: Das ist schon ein kräftiges Stück mit tiefem Gefühl und starken politischen Konzepten. Und manche Leute mögen das, andere nicht. Ich hatte aber ein gutes Gefühl in den Vorstellungen.
Die Sängerin Julia Araújo © Rolf K. Wegst
Davíd Gaviria: Es gab oft ein Gefühl von Fremdheit, weil das Publikum plötzlich auf der Bühne ist und es keine bekannten Strukturen mehr gibt. Und das löst unterschiedliche Reaktionen aus: Freude, Neugier oder Verlorenheit. Wahrscheinlich spielt es auch eine Rolle, ob man sich die Einführung angehört oder etwas über das Stück gelesen hat. Ich fand toll, dass auch beim Publikum Leute aus verschiedenen Sparten zusammenkamen. Das Publikum sortiert ja oft auch streng nach Sparten. So haben sich in dem Projekt unterschiedliche Menschen getroffen.
Julia Araújo: Das ist interessant, dass es nicht nur für uns spartenübergreifend war, sondern auch für das Publikum.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Was haben Sie bei den Proben von den Kolleg:innen aus den anderen Sparten gelernt? Haben Sie Impulse fürs eigene Arbeiten bekommen?
Julia Araújo: Ich habe auf jeder Probe etwas gelernt.
Gustavo de Oliveira Leite: Ganz konkret habe ich Stimmübungen gelernt, und das ist für meine Arbeit im Physical-Theatre-Ensemble, wo wir auch sprechen, sehr hilfreich. Dadurch spreche ich jetzt besser. Und mit dem Regisseur Thomas Krupa habe ich gelernt, über jeden Satz im Text zu gehen, die Motivation dahinter zu befragen. Wenn ich jetzt eine Figur interpretiere, dann gehe ich tief hinein und schaue, was diese Person in der Situation will. Es gibt so viele Ausdrucksformen von Sätzen und Bewegungen, und da ist es wichtig, zu wissen, was die Figur und ich als Darsteller dem Publikum sagen wollen.
Julia Araújo: Für mich als Sängerin ist es interessant, die Kollegen vom Schauspiel zu beobachten, wie sie sich vorbereiten. In der Oper „Clemenza“ habe ich viele Rezitative, halb gesprochenen Text. Der Kontakt mit den Schauspielern hat mir dabei geholfen, dass ich das natürlicher machen kann.
Der Schauspieler Davíd Gaviria © Rolf K. Wegst
Davíd Gaviria: Für mich waren Probenabläufe komplett neu. Mein Eindruck war, dass Tanz und Gesang eine andere Vorbereitung brauchen für die Szenen. Du hast deine Arien ja vorher gelernt, Julia, und arbeitest dann auf einem hohen Niveau. Im Schauspiel arbeiten wir von Anfang an zusammen. Als wir später mit dem Chor gearbeitet haben, war wieder vieles anders. Da war dann nach genau einer Stunde Pause, das war für uns total fremd. In einem Haus gibt es also komplett unterschiedliche Abläufe.
Julia Araújo: Auch der Chor hat einen anderen Arbeitsrhythmus.
Davíd Gaviria: Das Orchester auch … Die Perspektive auf das Stück war auch unterschiedlich. Jeder hatte Vorstellungen oder Erwartungen. Wenn ich mit dem Streichquartett gesprochen habe, die haben etwas ganz anderes erwartet als wir Schauspieler:innen. Man muss erst mal eine gemeinsame Sprache finden, damit man reden kann.
Julia Araújo: Schön fand ich die gegenseitige Neugier: Wie machst du das?
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Eine getrennte Ausbildung für Tänzer:innen, Sänger:innen, Schauspieler:innen ist aber immer noch sinnvoll?
Julia Araújo: An der Hochschule in Leipzig hatte ich Bühnentanz und Fechten und Körperkoordination – und habe das genossen. Ich kenne aber auch Kollegen, die das überhaupt nicht wollen. Für mich ist es eine große Freude, den Körper zu bewegen und das mit Profis zu machen und von ihnen zu lernen. Ich singe mit dem gesamten Körper anstatt nur zu stehen und zu singen.
Davíd Gaviria: Wenn man alles kann, kann man am Ende auch nichts. Schauspieler, die in den USA ausgebildet wurden, die können tanzen und singen. Aber kann ich das wirklich in den vier Jahren Ausbildungszeit unterbringen? Ich finde es wichtig, dass man sich als integraler Künstler sieht. Dass man nicht nur für einen Regisseur funktioniert, sondern selbst eine Stimme hat und mitdenkt.
Julia Araújo: Im Studium sollte es schon ein Hauptthema, ein Instrument geben, aber darüber hinaus sollte man auch in den anderen Bereichen etwas lernen. (zu Gustavo de Oliveira Leite) Du als Tänzer hast auch als Schauspieler in „Posthuman Journey“ großartige Arbeit gemacht. An diesem Theater ist das möglich. Aber an einem reinen Opernhaus kann es das natürlich gar nicht geben. Das finde ich schade.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Gerade steht hier am Theater eine spartenübergreifende Produktion im Tanz an.
Gustavo de Oliveira Leite: Ja, wir proben ein Stück, „Five Stages of Grief“, bei dem auch Chor und Orchester dabei sind. Wir singen nicht und spielen keine Instrumente, aber es ist eine sehr kooperative Arbeit. Was wir genau machen werden, müssen wir noch entwickeln.
Der Tänzer Gustavo de Oliveira Leite © Rolf K. Wegst
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Eine Auflösung der Sparten ist am Theater Gießen nicht geplant?
Gustavo de Oliveira Leite: Ich würde beides wollen: tanzen mit Kollegen, die sich ihr ganzes Leben nur damit beschäftigen, aber auch mit den Schauspielern und Sängern zusammenarbeiten. Eine Mischung, das wäre mir das Liebste.
Davíd Gaviria: Es soll auf jeden Fall nicht spartenübergreifend sein in dem Sinne, dass das Schauspiel eine Szene macht und dann kommt der Tanz, sondern dass alle alles machen – auch wenn wir jetzt nicht alle Arien gesungen haben. Es braucht halt mehr Zeit; wir hatten zehn Wochen, auch wenn es ein langer Abend war. Das Konzept, dass wir uns als Künstler:innen mischen, ist supertoll.
Julia Araújo: Eine Fortsetzung in der nächsten Spielzeit wäre wunderbar. Ich bin ein großer Fan von Crossover, von Kooperationen.