Carmen Priego: Als ich angefangen habe zu spielen, habe ich den Bühnenverein kaum wahrgenommen. Das fing erst mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST an, wo ich registriert habe, dass es den Bühnenverein nicht nur gibt, sondern er sich offenbar auch für Kunst interessiert. Richtig stark und regelmäßig habe ich den Bühnenverein dann wahrgenommen, als Ulrich Khuon, der Vorgänger von Herrn Brosda, zu den Veranstaltungen des ensemble-netzwerks gekommen ist. Ich bin kein Mitglied bei ensemble-netzwerk, aber ich finde die Gründung dieser Ensemblevertretung sehr wichtig. Ulrich Khuons Engagement auf diesen Treffen hat mich wirklich beeindruckt.
Elena Tzavara: Auch für mich war der FAUST ein wichtiger Faktor in der Wahrnehmung des Bühnenvereins. Aber als Leiterin der Kinderoper Köln wurde der Bühnenverein für mich auch durch die Initiative Kultur macht stark sehr präsent. Wir haben uns dort an diesen Projekten beteiligt, auch die finde ich ungeheuer wichtig, weil das quasi eine Lobbyarbeit dafür ist, Kindern und Jugendlichen die Teilhabe an der Kultur und damit an der Gesellschaft zu ermöglichen.
Florian Lutz: Auch ich muss zugeben, dass ich mich bis 2016, als ich die Intendanz an der Oper Halle angetreten habe, wenig mit dem Bühnenverein beschäftigt habe. Auch wenn ich mich schon vorher darüber gefreut habe, dass die vom Bühnenverein herausgegebene Zeitschrift DIE DEUTSCHE BÜHNE regelmäßig über meine Produktionen berichtet hat. Als Intendant hat mir der Bühnenverein dann sehr geholfen, mich in meine neue Funktion hineinzufinden, auch dadurch, dass ich in einer sehr schwierigen Konstellation an der Oper Halle die Rechtsberatung durch Michael Schröder in Anspruch nehmen konnte. Und je länger ich jetzt Mitglied der Intendant*innengruppe bin, desto höher lerne ich auch die Qualität als Interessenverband schätzen, der sich nicht nur für die Arbeitgeberseite interessiert, sondern ganz bewusst für alle Beteiligten am Theater. Ich fand es in meiner Wahrnehmung von Ulrich Khuons Arbeit extrem wichtig, dass da auch das ensemble-netzwerk eingebunden wurde, dass man sich angesichts der #MeToo-Debatte auf einen Wertebasierten Verhaltenskodex verständigt hat und dass man sich als Theaterverband solchen gesellschaftlichen Diskursen gestellt hat. Wenn Sie nach meinen Erwartungen fragen, dann hoffe ich natürlich, dass diese Entwicklungen mit Ihnen, Herr Brosda, weitergehen.
Damit stellt sich die Frage an Sie, lieber Herr Brosda, wie Sie als Politiker nach dem Intendanten-Präsidenten Ulrich Khuon diese Arbeit fortführen werden.
Carsten Brosda: Ich muss ehrlich zugeben, dass ich wenig darüber nachdenke, ob ich jetzt als Kultursenator unterwegs bin oder als Bühnenvereinspräsident. Als was sehe ich mich? Wenn wir über das ensemble-netzwerk reden, dann verweist das auf die betriebskulturellen Fragen, die wir miteinander zu lösen haben: Wie können wir so miteinander umgehen, dass Theater und Orchester Arbeitgeber sind, die jetzt und in Zukunft attraktive Umfelder schaffen? Damit Menschen, die eine intrinsische Motivation haben, zu arbeiten, auch ordentlich behandelt werden und gern zur Arbeit gehen! Wenn wir über den FAUST reden, dann ist das etwas, das zu Recht an Bedeutung gewinnt. Tatsächlich geht es im Bühnenverein mittlerweile auch mehr um Kunst, um ästhetische Positionen, um die Weiterentwicklung des Feldes von Kunst und Kultur, für das der Bühnenverein mit seinen Theatern und Orchestern steht. Und wenn wir über Kultur macht stark reden, dann beschreiben wir eine gesellschaftliche Relevanz, eine Vermittlung, ein Sich-Öffnen für eine aktivere Zielgruppenansprache – und nicht mehr diese Theatervorstellung von vor 175 Jahren: Da steht ein hehres Haus in der Mitte der Stadt, und das Bürgertum weiß schon, wie es da hinkommt.
Das sind drei wichtige Punkte, insofern ist der Bühnenverein für mich auch alles drei: Er ist natürlich ein Arbeitgeberverband und hat als solcher auch eine klare Aufgabe, die er erfüllen sollte. Er ist zweitens Interessenverband und adressiert die Interessen der Bühnen und Orchester gegenüber einer Gesellschaft, auch gegenüber der Politik. Und da kommen bei mir dann rollensoziologische Fragen ins Spiel, weil ich quasi Forderungen an mich selber stelle – das ist tatsächlich manchmal ganz putzig, aber machbar. Das ist ja auch Vorgängern von mir schon gelungen. Und dazu kommt etwas Drittes – und das ist etwas, das mein Vorgänger Ulrich Khuon maßgeblich auf den Weg gebracht hat: Der Bühnenverein ist nämlich auch ein Diskursraum. Er kann die Möglichkeit schaffen, aus den unterschiedlichen Perspektiven derer, die beteiligt sind am Geschehen vor, hinter und auf der Bühne, Dinge zu diskutieren. Und damit kann er zur Klärung aus der Interessenheterogenität herausführen, die sich ja spannenderweise schon im Verband findet. Der Verband ist dadurch ein Zwitterwesen, dass die Gesellschaft, die Träger und die Institutionen hier alle zusammenfinden können. Diese Chance zu nutzen, die verschiedenen Perspektiven innerhalb einer Struktur zu haben und auch darüber zu reden, was man aus dieser Perspektivenvielfalt entwickeln kann – ich glaube, in dieser Hinsicht hat Ulrich Khuon eine ganze Menge in Bewegung gesetzt. Daraus sind die spannendsten Impulse der letzten fünf Jahre entstanden. Und das muss weitergehen und auch weiterhin zu Ergebnissen führen – wie beispielsweise der eben erwähnte Kodex eines ist. Und was ist bei alledem der Bühnenvereinspräsident? Er ist jemand, der mit einer eigenen Meinung und hoffentlich offenen Ohren Teil dieser Debatten ist und die Gelegenheit hat, ihnen eine Stimme nach außen zu geben.
Das heißt, wir erleben das Wachsen einer neuen Dimension: des Diskursraums. Der Bühnenverein hat sich mit Interessengruppen und Verbänden vernetzt, er ist offener und in den Debatten der Kulturszene auch präsenter geworden als noch vor zehn Jahren. Aber all das spielt sich innerhalb eines begrenzten kulturellen Netzwerks ab. Ist denn auch die politische und gesellschaftliche Außenwahrnehmung der Theater und ihres Interessenverbandes größer geworden? Der Umgang der Politik mit den Theatern im Zuge der Corona-Krise legt diesen Verdacht meines Erachtens nicht unbedingt nahe.
Carmen Priego: Wenn ich in Bielefeld jemanden auf der Straße frage: Was ist der Bühnenverein?, dann würde darauf wohl niemand eine Antwort geben, glaube ich. Wenn ich allerdings frage: Ist das Theater wichtig?, dann werde ich Antworten bekommen. Ich denke, dass diese Situation mit Corona schmerzhaft deutlich macht, wie unglaublich wichtig öffentliche Räume sind. Ich habe aber das Gefühl, dass in der Politik die Wichtigkeit des Theaters als öffentlicher Raum nicht deutlich ist. Das liegt vielleicht auch an den Theatern, die sich noch nicht genügend geöffnet haben in die Stadtkulturen hinein.
Elena Tzavara: Auch in Baden-Württemberg würde man auf der Straße da keine genauere Antwort kriegen. Aber die Öffentlichkeit nimmt schon sehr stark wahr, dass die Künstler in dieser Pandemie Not leiden – nicht nur materiell. Ich habe den Eindruck, dass die Bevölkerung das sogar eher weiß als die Politiker. In der Politik haben wir für dieses Dilemma keine Ansprechpartner mehr finden können … Und dann kommt es zu einer Situation, in der zwar die Künstler unter-
einander enorm solidarisch sind und die Kunstinstitutionen auch den freischaffenden Künstlern helfen. Aber das bleibt doch wieder dieser kleine hermetische Nukleus. Ich finde, dass die Kunst und ihre Not doch in der großen politischen Debatte wahrgenommen werden müssten.
Carsten Brosda: Letztlich geht es darum, wie die Übersetzungsleistung zwischen Kultur und Politik besser gelingt. Das sind schließlich zwei Bereiche, die zunächst sehr unterschiedliche Sprachen sprechen und sehr unterschiedlichen Logiken folgen. Kulturpolitiker und -politikerinnen sind diejenigen, die diese Übersetzung eigentlich leisten müssten. Aber man muss schon feststellen: Es gibt im Moment nicht viele, denen das gelingt. Das liegt auch daran, dass Kulturpolitik lange Jahre kaum als Politik begriffen worden ist. Zugespitzt gesagt ging es eher darum, auf Matineen schöne Reden zu halten und das vorhandene Geld so zu verteilen, dass keiner sich beschwert. Irgendwann kam dann noch eine Standortmarketing-Agenda dazu, mit dem Argument, Kultur mache die Stadt attraktiver für talentierte Arbeitskräfte. Das hat sich die Kulturpolitik teilweise zu eigen gemacht, um an höhere Budgets zu kommen, denn ehrlicherweise ist sie in der Nahrungskette der öffentlichen Haushalte oft erst am Ende dran. Aber seit etwa anderthalb Jahrzehnten haben wir in unserer Gesellschaft eine Verschiebung der kulturellen Tektonik. Das merken wir an unserer Unfähigkeit, mit Diversität und Vielfalt umzugehen. Wir merken das, wenn rechte Parteien fordern, wir müssten in der Kultur 50 Jahre zurück in eine Vorstellung von Heimeligkeit, die Gewissheiten vorgaukelt und Ausschließungseffekte mit sich bringt, die einer modernen Gesellschaft nicht würdig sind. Die Rechte tut aber so, als wäre diese Heimeligkeit für die Mehrheitsgesellschaft das bessere Szenario. Gleichzeitig stellen wir fest, dass bislang an den Rand gedrängte Minderheiten legitimerweise einfordern, Teil der gesellschaftlichen Konversation zu sein. Sie wollen nicht mehr, dass für sie entschieden wird, sondern mitentscheiden, den Diskurs weiter demokratisieren! All diese Themen haben wir seit Längerem auf der Agenda, insofern wird Kultur zur gesellschaftlichen Auseinandersetzungsressource. Und die Frage ist jetzt: Wie geht die Politik damit um, ohne die Kultur gleich wieder zu funktionalisieren? Wenn man das Politische im fundamentalen Hannah-Arendt’schen Sinne als das versteht, was entsteht, wenn Menschen miteinander sprechen – dann sind sich Kultur und Politik eigentlich gar nicht mehr so fern. Denn dann stellt man fest, dass sie über recht ähnliche Instrumentarien verfügen. Die Frage ist also: Bekommt man darüber eine andere Verbindung hin? Barbara Kisseler, meine Vorgängerin als Kultursenatorin, hat mir mal gesagt: Wenn du über Kunst reden willst, dann geh zu den Bankern. Denn wenn du zu den Künstlern gehst, wird nur über Geld geredet. Die Frage ist aber, wie wir über die Kultur reden können, die uns alle angeht – das ist für mich die Aufgabe der nächsten Jahre, denn da liegen ganz viele Themen, für beide Seiten! Das zusammenzubringen – das könnte unsere Gesellschaft deutlich schlauer machen, als sie gerade in dieser Krise agiert.
Florian Lutz: Carmen Priego hat recht: Je stärker sich die Theater und Kulturinstitutionen in die gesellschaftliche Diskussion einmischen und damit auch mehr Menschen erreichen als nur die traditionelle Theaterklientel und je mehr das Theater es über Festivals oder Vermittlungsprogramme schafft, nicht nur den Kanon zu bedienen, sondern wirklich gesellschaftlich relevante Themen aufzugreifen, desto größer ist die Chance, dass das Theater nicht nur als Freizeitalternative zum Sport oder zur Spielhalle wahrgenommen wird, sondern als etwas, das für viele Menschen in der Stadt ausschlaggebend und relevant ist. Das heißt: Wir sollten uns nicht nur fragen, ob und wie die Politik uns versteht, sondern vielmehr noch, wie wir uns selber verstehen und was wir tun können!
Carmen Priego: Ja, aber das ist kompliziert. Es gibt ja dieses Wort der Systemrelevanz. In dem Moment, wo wir Schwierigkeiten damit haben, genügend Betten auf den Intensivstationen vorzuhalten, tue ich mich mit der Behauptung, Theater sei „systemrelevant“, ziemlich schwer. Es ist doch in so einer Situation klar, dass Ärzte und funktionierende Krankenhäuser „systemrelevanter“ sind und auch stärker wahrgenommen werden als Theater. Und Herr Brosda hat ja auch beschrieben, wie der Theaterdiskurs immer wieder seine Eigenlogik verlassen hat und sich stattdessen in die Diskurse der Wirtschaft, der Banker, der Politik eingegliedert hat. Aber das ist für mich ein ganz, ganz falscher Weg! Das Theater muss aus seiner eigenen Logik heraus zeigen, dass es wichtig ist für eine Gesellschaft und nicht in den Logiken der Standortqualität, der Umwegrentabilität, der Unterhaltung.
Elena Tzavara: Ja, mir geht es ähnlich. Ein Intendant muss natürlich ganz viele Dinge abklären, er ist fast stärker gefordert als Unternehmensführer denn als künstlerischer Leiter. Und das ist, glaube ich, auch so ein bisschen die Crux an der Sache: Es werden immer mehr Kulturmanager Intendanten, was ich als eine sehr negative Entwicklung wahrnehme. Dadurch verändern sich auch die Maßstäbe, mit denen die Kunst wahrgenommen und bedacht wird – sie wird nämlich zu einem „Produkt“. Ich finde es schwierig, wenn das, was wir hervorbringen, nicht mehr unter künstlerischen Kriterien betrachtet wird, sondern im Rahmen des Stadtmarketings. Diese Vernachlässigung künstlerischer Kategorien findet sich ja bereits in den Lehrplänen der Schulen: Kunst und Musik werden im Vergleich zu den MINT-Fächern immer mehr vernachlässigt. Den Stellenwert der Musik in den Bildungsplänen der Bundesländer finde ich geradezu hanebüchen! Und daran, wie marginal dieser Bereich im Bildungsgang eines Kindes ist, kann man ermessen, wie schwach die Lobby für Kunst und Musik ist. Wenn im Curriculum der Kinder Kunst und Musik nicht gleichwertig zu anderen Fächern gefördert werden, dann können wir uns doch vorstellen, wie die Zukunft der Kunst in diesem Land aussieht. Das müsste man auch mit den Bildungsministern der Länder diskutieren.
Carsten Brosda: Diese Diskussion führen wir auch. Aber was Sie beschreiben, ist ja schon ein Spiegel des Stellenwerts, den die Gesellschaft der Kunst zuweist. Ulrich Khuon hat den Beschluss über den sogenannten „Lockdown light“ Ende Oktober kommentiert mit den Worten: Auf einmal liegen die Theater wieder, wie einst bei den Pietisten, neben den Spielbanken und den Bordellen auf dem Weg zur Hölle. Und es gab danach ja auch in der Kultur eine Menge Aufregung. Aber es gab keinen gesellschaftlichen Aufschrei. Und ehrlicherweise ist es das, woran ich immer noch am meisten knapse! Ich glaube auch, was vorhin schon gesagt wurde: Wenn man die Menschen fragt: Was bedeutet dir dein Theater?, dann kommen Antworten, auf die man eine ganze Menge gründen kann. Aber trotzdem war es Ende Oktober so, dass das gesellschaftliche Aufbäumen gegen diesen Beschluss fehlte! Und die eigentlich interessante Frage ist doch, warum das so war. Was müssen wir tun, damit wir eben nicht nur wahrgenommen werden als diejenigen, die sagen: Habt uns lieb, beschützt uns, und passt auf uns auf! Sondern wie können wir klarmachen, dass wir ein relevanter Treiber all der Debatten, all der Fragen, all der Selbstverständigungsprozesse sind, in denen unsere Gesellschaft gerade steckt? Wir alle haben miteinander noch eine Menge zu tun, um das auch in die Ecken der Stadtgesellschaft hineinzutragen, die wir bislang nicht erreichen. Das ist nämlich die Mehrheit. Und wenn wir da nicht hinkommen, dann werden wir immer wieder so verlieren.
Carmen Priego: Damit haben wir jetzt ein riesig tiefes Fass aufgemacht. Ich bin der Meinung, dass sich das Theater derzeit in einer „neoliberalen Umklammerung“ befindet. Und diese Umklammerung muss weg. Das fängt schon damit an, dass man von Theater nicht als Produkt sprechen darf. Und es geht weiter mit dem Stellenwert von Theater, auch in der Schule: Wenn Kunst ausfällt: nicht so schlimm! Wenn Deutsch ausfällt: schon schlimmer. Aber wenn Mathe ausfällt: Oh, jetzt wird’s gefährlich! Dahinter steckt eine ganze Werte- und Handlungskultur, und die müssen wir hinterfragen.
Carsten Brosda: Das ist richtig. Wir verengen die Vernunft häufig auf eine technische und funktionale Vernunft und begreifen nicht, dass es daneben noch eine andere Form der Vernunft gibt, die ganz viel mit Kommunikation und mit der symbolischen Ausdeutung unserer Gesellschaft zu tun hat.
Florian Lutz: Das ist ja auch das, was Adorno sagt: In einer Gesellschaft, in der alles instrumentell konzipiert und in die funktionalen Logiken eingereiht wird, hat Kunst die Aufgabe, dem als etwas Autonomes entgegenzutreten. Wenn man jetzt allerdings sagt, wir müssten unserer eigenen Logik folgen, dann kann das ja auch nicht heißen, dass wir einfach das weitermachen, was wir gut können. Gut gemachtes Musiktheater, Sprechtheater, Tanztheater: Da müssen wir doch akzeptieren, dass das heute nur noch einen Bruchteil der Menschen interessiert. Natürlich wünschen wir uns das anders, aber es hilft ja nichts. Ich finde, da ist unsere Aufgabe sowohl als Bühnenverein als auch als Theater und als Künstler, dass wir – natürlich mit unseren ureigenen künstlerischen Mitteln – immer wieder auf das rekurrieren müssen, was in der Gesellschaft um uns herum an Diskursen wichtig ist. Ich glaube auch, dass wir das nicht einfach auf die Politiker schieben können, die uns nicht genug Relevanz zumessen. Ich glaube, das tun wir selbst auch nicht, wenn wir Spielpläne so machen, dass nur gewisse kunstimmanente Standards erfüllt und in einer Theaterlogik gängige Formen reproduziert werden. Ich glaube, es geht darum, sich zu überlegen, was für eine Art von Theater jetzt ansteht, damit man wieder mehr Menschen erreichen kann und die dann das Theater auch wieder als eine relevante Größe wahrnehmen.
Elena Tzavara: Ich wollte auch nicht über die Politik jammern, sondern einfach auf etwas hinweisen, was ich in meiner Arbeit erlebe. Wenn wir zum Beispiel am JOiN Digitalworkshops für die Schulen anbieten und ich da die Jugendlichen reden höre, dass sie unbedingt einen „systemrelevanten“ Beruf ergreifen wollen, dann muss ich ehrlicherweise sagen: Mir graut es! Und zwar deswegen, weil darin etwas von Spaltung und Ausgrenzung liegt und auch von bedingungsloser Anerkennung des „Systems“. Da sind dann alle, die etwas anderes machen, nicht mehr so wichtig. Deswegen ist „systemrelevant“ für mich das Unwort des Jahres. Und wir als Theater sollten uns um diese Art von Systemrelevanz nicht bemühen, das ist nichts, womit wir uns legitimieren sollten.
Carsten Brosda: Mich regt dieses Wort auch auf, weil ich finde: Wir sind dem „System“ vorgängig! Systemrelevanz ist das Erfüllen einer Funktion, die innerhalb eines systemischen Zusammenhangs zugeschrieben wird. Deswegen sind Banken im Kapitalismus systemrelevant, denn wenn die Banken weg sind, dann fliegt der Kapitalismus auseinander, weil niemand mehr die Geldmenge reguliert. Das, was Kultur leistet, ist etwas ganz anderes: Sie stellt die Frage nach der Vereinbarung der Normen unseres Zusammenlebens auf der Ebene davor. Vielleicht ist Kultur sogar das, woraus sich dann die systemischen Bezüge herleiten können und nicht etwa umgekehrt! Die Kultur ist das Fundament unseres Zusammenlebens. Ohne Kultur würde es die systemischen Bezüge gar nicht geben können! Mit dem Begriff der Relevanz hingegen kann ich in Bezug auf die Kultur wunderbar arbeiten, weil er eine Bedeutung und eine Alltagsplausibilität hat. Der Begriff der Systemrelevanz dagegen verengt das zu sehr auf einen Funktionalismus, der der Kultur genau das nimmt, was Florian Lutz richtig beschrieben hat. Adorno hat ja auch mal gesagt, dass Kunst die Aufgabe habe, Chaos in die Ordnung zu bringen. Das ist nicht mehr Systemrelevanz. Das ist aber das Notwendige, wenn es nicht mehr darum geht, Funktion zu erfüllen, sondern Sinn zu stiften!
Carmen Priego: Das steckt auch im Begriff der Heterotopie, der ja von Foucault kommt und zu dem die Theater etwas leisten können. Sie können die Keimzelle für andere Weltversionen sein, die wie ein Muster in die bestehende Welt ausstrahlen. Und das halte ich wirklich für wichtig. Es geht aber auch darum, dass die Weltversionen, die im Theater geschaffen werden, für das Publikum sichtbar werden und so eine wirkliche Diversität von Erzählungen entsteht. Auch ich gehöre ja zu den Menschen, die eine Migrationsbiographie haben, und aus so einer Biographie heraus entstehen ganz andere Geschichten, die erzählt werden müssen. Das ist der Punkt, wo ich Florian Lutz recht gebe: Die Geschichten, die die Theater heute erzählen, werden von vielen Menschen nur noch als Dekoration wahrgenommen. Deshalb dürfen wir nicht einfach so weitermachen. Theater darf keine Dekoration sein.
Florian Lutz: Richtig, denn damit schließen wir weite Teile der Stadtgesellschaft aus. Und das ist eine Herausforderung, die wir als Theatermacher erst mal selber in die Hand nehmen müssen. Das finde ich auch total spannend. Denn in dem Moment, wo man das konsequent macht, wird das Theater in der Stadt anders wahrgenommen. Das war übrigens eine Erfahrung, die wir mit den Produktionen auf unserer Raumbühne HETEROTOPIA in Halle machen konnten. Dadurch, dass das eine Bühneninstallation war, die die Zuschauerrolle völlig neu definierte, sind wir in der Stadt zwar erst mal angeeckt – waren aber plötzlich Stadtgespräch. Das kriegt man aber nur hin, wenn man sich als Theatermacher mal aus der Deckung wagt, statt weiter im Repertoirealltag zu verharren.
Carsten Brosda: Das geht sogar noch weiter. Die Theater dürfen nicht dabei stehen bleiben, dass sie sich als weitgehend homogene Institutionen Gedanken machen, was für ein Programm eine heterogene Gesellschaft braucht, die dann mit besonders klugen Vermittlungsstrategien angesprochen wird. Es geht darum, die Institutionen so durchlässig zu machen, dass sich die Vielfalt der Gesellschaft auch überall in den Institutionen widerspiegelt. Erst dann ist die Haltung, dass die Theater Orte für alle sind, von der gesamten Stadtgesellschaft zu erwarten. Das geht nicht nur durch Vermittlung, sondern führt zu den Fragen: Wer ist auf der Bühne zu sehen, und wer ist hinter der Bühne beteiligt an der Erstellung der Programme?
Elena Tzavara: Durchlässigkeit zu schaffen, das ist ja auch das Konzept des JOiN: Wir wollten im Nord eine „gläserne Opernwerkstatt“ schaffen, in der man sieht, wie Oper entsteht. Denn der Weg zur Oper darf nicht nur über die Treppe vor dem großen Opernhaus führen. Da erlebt man genau die Dissonanz der Diversität: Draußen sitzen junge Leute auf der Treppe und hören „ihre“ Musik, und drinnen hört ein ganz anderes Publikum ganz andere Klänge. Wir haben ja in Stuttgart gerade die Debatte um die Sanierung des Littmann-Baus, und da, bei der Gestaltung, bei der Architektur, fängt die Frage der Durchlässigkeit doch schon an. Vielleicht brauchen wir ja eine ganz andere Architektur, um den Betrieb wirklich offener, transparenter für andere Teile der Stadtbevölkerung als das übliche Opernpublikum zu machen?
Florian Lutz hat sein Konzept mit der spartenübergreifenden Raumbühne HETEROTOPIA in der bestehenden Struktur des Betriebs und der Architektur realisiert. Aber irgendwann stellt sich in der Tat die Frage einer Neuformatierung des kompletten Settings: Vielleicht braucht man andere Häuser, vielleicht müssen sich die Orchester neuen Aufgaben stellen, vielleicht braucht man neue künstlerische Kompetenzen am Haus? All das zieht Investitionsbedarf nach sich, und damit müsste man die Frage nach der Öffnung auch wieder an die Politik adressieren.
Carsten Brosda: Vieles entscheidet sich vor allem an konkreten Vorschlägen vor Ort. Und der Zweifel, ob man einfach so weitermachen möchte wie bisher, nagt auch an der Politik. Die Lust, etwas in Bewegung zu setzen, ist schon da. Aber natürlich muss die Politik auch darauf gucken, dass man ein Theater mit jahr-
hundertelanger Tradition nicht einfach innerhalb von fünf Jahren entlang einer schön klingenden Idee komplett umkrempeln kann. Aber dass da mehr gehen muss, als teilweise bislang gemacht wurde – diese Ansicht wächst schon. Es stellt sich ja zunächst die Frage, wie man so ein Haus bespielen kann, und da muss ich sagen: Eigentlich ist das doch ein riesiger Möglichkeitsraum! Der wird einem künstlerischen Team zur Verfügung gestellt, um damit was zu machen. Und zwar möglichst etwas, das im Alltag der Stadt bemerkt wird. Die Vielfalt an Möglichkeiten, diesen Auftrag auszufüllen, kann deutlich größer sein, als das momentan der Fall ist. Und nicht alles kostet immer gleich Geld, oft geht es ganz einfach darum, bestimmte Routinen zu verlassen und das Publikum dabei mitzunehmen.
Florian Lutz: Ich mache gerade in Kassel auch die Erfahrung, das uns die Kulturpolitiker geradezu ermuntern, das Haus mal anders zu nutzen, zum Beispiel das Orchester auf die Bühne zu setzen und die Zuschauer drum rum zu verteilen, um trotz Corona mehr Leute ins Theater zu bringen und denen dann auch eine ganz neue Musiktheatererfahrung zu bieten. Das heißt: Ideen, die ursprünglich mal aus eher kunstimmanenten Überlegungen heraus entstanden sind wie damals HETEROTOPIA, die bekommen unter dem Druck der Corona-Krise plötzlich eine ganz andere Dringlichkeit, weil man merkt, dass uns diese Pandemie noch eine Weile begleiten wird und wir schon deshalb nicht einfach wieder zu den Zuständen davor zurückkehren können.
Elena Tzavara: Corona hat tatsächlich etwas ermöglicht, auch bei uns! Wir haben die ganze Stadt bespielt, sind in die Waldkindergärten gegangen, die Flexibilität am Haus ist enorm gewachsen, und wir haben damit gute Erfahrungen gemacht. Das wird dazu führen, dass wir diese ungewöhnlichen Formate in Zukunft weiterführen und auch den Aspekt des Digitalen weiterentwickeln werden. Wir werden ein hybrides Opernprogramm entwickeln, unabhängig davon, ob und wie die Pandemie weitergeht, weil wir damit mehr und andere Menschen erreichen als zuvor.
In dem Zusammenhang stellt sich ja die interessante Frage nach dem Zusammenhang von künstlerischem Format und Publikumsreichweite: Welche Formate sind es denn eigentlich, mit denen man dieses andere Publikum erreicht?
Florian Lutz: Wir haben in Halle vom „Theater des Erlebnisses“ gesprochen: Wenn schon die Oper eine Formensprache hat, die für Menschen, die damit nicht sozialisiert wurden, erst mal befremdlich ist, dann muss man der Aufführung eine Erlebnisqualität geben, die unabhängig von einer vorgängigen Sozialisation spontan funktioniert – eben durch diese andere Raumkonzeption, die das Publikum mit auf die Bühne nimmt, durch partizipative Elemente und anderes mehr. Das kriegt eine entsprechende Wucht allerdings erst, wenn das auch kraftvoll nach außen transportiert wird, das heißt: Das braucht sehr viel Werbung, pädagogische Begleitung, Vermittlung und auch flankierende Theaterarbeit in den und mit den Communities, die man erreichen möchte. Deshalb freue ich mich darauf, dass ich jetzt in Kassel für alle diese Bereiche selbst die Verantwortung habe.
Herr Brosda, damit ist der Präsident des Bühnenvereins als Kommunikator und Mitgestalter weitgehender Veränderungsprozesse gefragt.
Carsten Brosda: Gott sei Dank, sonst wäre das ja langweilig! Jürgen Habermas hat mal von der Verflüssigung der Traditionsbestände einer Gesellschaft gesprochen. Mittlerweile haben wir so ziemlich alles verflüssigt. Und das ist ausdrücklich etwas Gutes. Jetzt muss es im Theater gelingen, den Kern der Idee des Theaters zu erhalten: nämlich dass wir innerhalb unserer Städte und unserer regionalen Zusammenhänge Orte brauchen, in denen wir uns als Gesellschaft begegnen, uns spielerisch inspirieren lassen und dann etwas mit dieser Erfahrung machen. Die Art und Weise, wie sich das ausprägt, steht jeden Tag neu auf dem Spielplan und damit zur Debatte. Das ist die Dialektik des Theaters: eine jahrhundertealte Tradition – und immer wieder neue Leute, die diese Tradition neu definieren. Und diese Dialektik finde ich spannend! Das Schlimmste allerdings, was eine Gesellschaft gegenüber dem Theater tun kann, ist, sich zu viele Gedanken darüber zu machen, was sie von diesen Orten erwartet. Und das Schönste ist, wenn sie sagt: Die einzige Erwartung ist es, überrascht zu werden. Dann wird sie mit etwas konfrontiert, womit sie sich auseinandersetzen muss. Und das ist auch für das Theater inspirierend, weil es gar nichts lösen muss, stattdessen aber etwas auslösen kann. Und dieses Auslösenkönnen durch Dinge, die vollkommen quer zu dem liegen, was unsere Gesellschaft sonst macht, ist so wertvoll. Das müssen wir uns unbedingt erhalten. Und zwar sowohl in den bestehenden Institutionen als auch in all den freien Strukturen, die neu entstanden sind und weiter entstehen. Das institutionelle und das freie Theater gehören noch viel enger in einen Austausch miteinander, als das bisher der Fall war. Und die dezentrale Struktur, die wir in Deutschland haben, die überall diese künstlerischen Kristallisationspunkte bietet und eben nicht nur in den Metropolen, ist ein unfassbares Geschenk. Die Möglichkeiten sind da. Und wir können gemeinsam ins Offene gehen.