Klaus Zehelein: Nein, kein Werk, das glaube ich nicht. Ich habe auch nie viel aufbewahrt auf dem Weg von einer Station zur anderen, ich habe alles immer weggeschmissen. Mich hat nie besonders interessiert, was ich gestern gemacht habe. Wenn schon, so betrachte ich mein Leben als ein – vielleicht geglücktes? – Stückwerk.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Oder vielleicht ja auch als Polyphonie, in der bestimmte Themen wiederkehren?
Klaus Zehelein: Von Anfang an – schon als Dramaturg in Kiel und Oldenburg, dann in Frankfurt, in Hamburg und als Intendant der Oper Stuttgart, schließlich an der Bayerischen Theaterakademie – habe ich die Institution, an der ich tätig war, als beschützend erfahren. Aber ich habe auch immer gewusst, dass nicht die Institution die Kunst bestimmen darf, sondern dass die Kunst die Institution bestimmen muss.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Was ist denn das Besondere an der Kunst?
Klaus Zehelein: Na, erst mal haben wir in der Oper 400 Jahre Geschichte vor uns und im Schauspiel 2500 Jahre. Da begegnet uns ein ungeheurer Reichtum, in dem Dinge aufgearbeitet werden, die für uns gesellschaftlich oder psychologisch unverzichtbar sind. Das war immer ein wesentlicher Punkt für mich: im Theater, in der Oper Dinge der Vergangenheit so zu entschlüsseln, dass sie unsere Gegenwart, ja sogar unsere Zukunft, die wir ja noch gestalten können, neu beleuchten. Insofern war die Kunst für mich immer ein großer Echoraum. Wenn der verloren geht, dann stirbt auch unsere Präsenz. Utopielos sind wir ohnehin schon seit der Postmoderne. Aber wir dürfen uns nicht auch noch die Vergangenheit nehmen lassen! Es gibt eine wunderbare Formulierung von dem Literaturwissenschaftler und Ideenhistoriker Jean Starobinski, die da lautet: Man müsse so lange lesen, bis der Text „die Augen aufschlägt“. Genau darum geht es: So lange insistierend vor einer Partitur oder einem Text zu sitzen, bis der Text oder die Partitur lebendig wird, dir etwas zu sagen hat. Aber gerade der Opernbetrieb ist darauf nicht immer ausgelegt. Denn wenn man das, dieses „die Augen aufschlagen“, an die Zuschauer herantragen will, braucht das eine ungeheure Kraftanstrengung aller. Und dabei ist keiner austauschbar. Aber das wird gerade durch den Opernbetrieb nicht gewährleistet. Da wird im Orchester munter ausgetauscht, da werden Doppelbesetzungen geprobt, da werden wichtige Partien schon innerhalb der ersten Vorstellungsserie von verschiedenen Sängern gesungen.
Klaus Zehelein beim Covershooting. Foto: Annette Hauschild/Ostkreuz
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Da setzt sich die Institution gegen die Kunst durch …
Klaus Zehelein: Ja, aber das ist falsch! In der Kunst ist keiner austauschbar! Da geht es um die Würde des Menschen, die auch die Würde der Kunst ist. Ich halte das für unzumutbar.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Welche Ihrer beruflichen Lebensstationen empfinden Sie als besonders bedeutsam?
Klaus Zehelein: Frankfurt, die Zeit mit Michael Gielen, den ich schon bei der Uraufführung von Zimmermanns „Soldaten“ 1965 in Köln kennenlernte, mit Hans Neuenfels, Ruth Berghaus, Axel Manthey, Christoph Nel, Alfred Kirchner. Wir hatten es am Anfang in Frankfurt unendlich schwer. Gielen galt ja als Modernski, dem das Orchester nicht zutraute, dass er auch einen „richtigen Bruckner“ kann. Und ich wurde in der FAZ angekündigt als: „… kommt aus der Provinz und gilt als links“!
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Oh, Provinz und links, interessante Kombi!
Klaus Zehelein: Nicht wahr? Aber es stimmte: In der Neugestaltung der Oldenburger Jugendkonzerte, die zuvor recht lustlos als Dienstleistung an der Klassik für Jugendliche verstanden wurden, arbeitete ich eng mit Professor Fred Ritzel zusammen, der die Neue-Musik-Abteilung an der gerade gegründeten Oldenburger Reform-Universität leitete. Nebenbei: Das war die Uni, die über Jahre namenlos bleiben musste, weil sie nicht Carl-von-Ossietzky-Universität heißen durfte, denn Carl von Ossietzky sei ja angeblich ein Kommunist gewesen. Während sich nebenan das Hindenburg-Gymnasium seines Namens erfreuen durfte. Deshalb hatte ich in der Kantine des Oldenburger Theaters einen Riesenkrach mit dem niedersächsischen Kultusminister Peter von Oertzen. Erst 1991 durfte die Universität endlich nach Ossietzky heißen. Nun dann: Mit Fred Ritzel haben wir Jugendkonzerte mit zehn bis 14 Post-Lehrlingen gemacht. Gemeinsam mit diesen 14- bis 17-Jährigen, einem Mitglied des Orchestervorstandes und Fred Ritzel erarbeiteten wir in vielen wöchentlichen, mehrstündigen Sitzungen ein Konzept, mit dem alternative Erfahrungen und Konflikte unterschiedlicher ästhetischer Normen und damit verknüpfter sozialer Verhaltensweisen in der Veranstaltung thematisiert werden konnten. Gespielt wurden unter anderem Filmmusiken aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ und „Der Pate“, die Titelmusik aus „Jesus Christ Superstar“, „Je t’aime … moi non plus“ von Jane Birkin, der erste Satz der „Jupitersinfonie“, ein Satz aus Mossolows „Eisengießerei“ oder „Photoptosis“ von Bernd Alois Zimmermann. Die Jugendlichen moderierten die Konzerte, es wurden Tonbandinterviews und Videogeschichten eingeblendet. Von 500 jugendlichen Besuchern blieben dann über die Hälfte in der anschließenden Diskussion. Und Stephan Remmler von der Neue-Deutsche-Welle-Band Trio war auch da, der war ja Musikdozent an der Oldenburger Uni.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Und das hat sich bis nach Frankfurt rumgesprochen, und plötzlich galten Sie als links …
Klaus Zehelein: Vielleicht hat sich auch rumgesprochen, dass ich 1969 in Kiel in die sogenannten „Septemberstreiks“ der Stahlarbeiter involviert war. Damals habe ich über Arbeitertheater nachgedacht und Gespräche darüber mit den Arbeitern geführt. Und als dieser wilde Streik ausbrach, wollten die ausgesperrten Stahlarbeiter ihre Flugblätter bei uns am Theater vervielfältigen. Na ja, das haben wir dann gemacht, und es hat sofort riesige Wellen geschlagen, anfangs sollte ich sogar fristlos entlassen werden. Aber dann solidarisierte sich der Kieler Oberbürgermeister mit den Stahlarbeitern, daraufhin schlossen sich ihnen auch die Gewerkschaftsführer an. Und darüber geriet meine Entlassung in Vergessenheit. Mit diesem Ruf also kamen Gielen und ich nach Frankfurt – und wurden angefeindet: Was wir da machten, dieses schreckliche Theater, das sei ja so ideologisierend und anstrengend! Und dann kam auch noch dieser William Forsythe, den habe ich ja nach Frankfurt locken können. Da war eine riesige Ablehnung! Aber da war auch ein Kulturdezernent. Und der hieß Hilmar Hoffmann. Der hatte eine große Stärke, der ließ sich nicht unterkriegen vom Magistrat. Der konnte zuhören. Und der hat zu uns gestanden! Das zu erfahren, dass es so einen Politiker gibt – das war großartig, das habe ich nie wieder so erlebt. Na ja, und Billy Forsythe – nach einem Jahr war der international ein Star! Damals in Frankfurt, da habe ich erneut erfahren, dass es sich lohnt, gegen Widerstände zu kämpfen, und dass es möglich ist, sich durchzusetzen – wenn man Partner hat. Und unser Partner war damals Hilmar Hoffmann!
DIE DEUTSCHE BÜHNE: In Stuttgart haben Sie, zusammen mit Juliane Votteler, Sergio Morabito, Helga Utz, Peter Ross und Antje Kaiser, Maßstäbe gesetzt für das, was man heute unter zeitgemäßer Operndramaturgie versteht. Die „Stuttgarter Dramaturgie“ war damals geradezu sprichwörtlich. Gehört das nicht auch zu den Leitmotiven Ihres Lebens?
Klaus Zehelein: Oh ja! Schon Anfang der 1970er-Jahre sind mir an der Berliner Schaubühne Botho Strauß und Dieter Sturm begegnet – die Dramaturgen von Peter Stein. Diese Vorbereitungsarbeit, die die geleistet haben, diese Genauigkeit der Analyse, verbunden mit der Lust an der Praxis, das hat mich ungeheuer beeindruckt. Denn das war immer mein Ziel: Texte und Partituren wirklich zu befragen, auch Widersprüche zuzulassen, und gerade auch in der Oper sich die Werke nicht so zurechtzuschneiden, dass es zu einer vorgefassten Absicht passt. Der dümmste Satz, den ich in dieser Hinsicht je gehört habe, war: „Was gestrichen ist, kann nicht durchfallen.“ Das verdanke ich aber auch meiner Begegnung mit Walter Felsenstein, den ich bei einer Diskussion in der Komischen Oper kennengelernt hatte – das war Anfang der 1960er-Jahre, als ich noch in Frankfurt studierte – und der mir so ein Papier verschaffte, mit dem ich ein Jahr lang jederzeit nach Ostberlin reinkonnte. Da habe ich Felsensteins Arbeit intensiv kennengelernt, gerade auch in dramaturgischer Hinsicht: die Sorgfalt der Übersetzungen, die sie spielten; die Genauigkeit, mit der sie ihre Arbeit dokumentierten.
Der Dramaturg und Opernintendant im August 2023 in Berlin. Foto: Annette Hauschild/Ostkreuz.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie haben die Funktion des Dramaturgen oder der Dramaturgin enorm aufgewertet: vom Zuarbeiter, der den Regisseur mit Hintergrundinformationen und das Programmheft mit klugen Texten versorgt, zu einem konzeptionellen Mitschöpfer der Inszenierung.
Klaus Zehelein: Ja, und das wurde ja auch bemerkt, deshalb haben wir 1983 für unsere dramaturgische Arbeit an der Oper Frankfurt den Deutschen Kritikerpreis bekommen. Aber akzeptiert war es darum noch längst nicht. Noch als Intendant der Oper Stuttgart musste ich mir bei Tagungen von den Kollegen Bemerkungen anhören wie beispielsweise: „Na, du musst ja viel Geld haben, wenn du es dir leisten kannst, Komponisten in die Dramaturgie zu engagieren!“ Das zielte damals auf Hans Thomalla, Andreas Breitscheid und Jens Schroth, die ja alle mal bei uns in Stuttgart tätig waren.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Und gegen Ende Ihres Weges, an der Bayerischen Theaterakademie, haben Sie den Studiengang Dramaturgie selbst geleitet und energisch aufgewertet.
Klaus Zehelein: Und da waren richtig gute Studenten, das war eine sehr, sehr gute Zeit!
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Ein weiteres Leitmotiv Ihres Lebens war die zeitgenössische Musik.
Klaus Zehelein: Die ist wirklich ein Teil meines Lebens, ja! Das begann schon mit meiner Klavierlehrerin Else Stock-Hug. Sie hat viele Klavierwerke des 20. Jahrhunderts in Deutschland ur- oder erstaufgeführt und war Dozentin bei den Darmstädter Ferienkursen. Sie hat mir schon mit acht oder neun Jahren die Begegnung mit neuer Musik vermittelt.
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Sie haben Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in der Zweitinszenierung in Stuttgart gezeigt. Hätten Sie gerne noch eine zweite Oper von Helmut Lachenmann aufgeführt?
Klaus Zehelein: Ja – aber dennoch: Ich habe mit Helmut Lachenmann gearbeitet, und ich verehre ihn in höchstem Maße. Das „Mädchen“, das ist ein ungeheures Werk! Als ich das in Hamburg wahrnahm bei der Uraufführung, nachdem diese immer wieder verschoben worden war – also ich war einfach total geplättet! Aber das „Mädchen“, das ist ein Solitär – fertig, aus! Dass wir dann später unsere Stuttgarter Aufführung von „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ noch retten konnten, nachdem die geplante Premiere zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2001 abgesagt worden war aus „politischen und finanziellen Gründen“ – dass wir das machen konnten, erst in Paris beim Festival d’Automne und danach in Stuttgart, mit all den Schwierigkeiten, Unabwägbarkeiten – auch das ist eine Leistung, auf die alle Mitarbeiter stolz sein können!
DIE DEUTSCHE BÜHNE: Wenn Sie auf Ihren Lebensweg zurückblicken: Ist da irgendetwas unerledigt, offengeblieben?
Klaus Zehelein: Ich muss vor allem eines sagen: Ich habe in meinem Leben immer wieder unerhörtes, vielleicht auch unverdientes Glück gehabt. Ich musste viel verkraften, ja, und manchmal auch leiden in den Konflikten, die ich durchzustehen hatte. Aber letztlich überwiegt das Gefühl des Glücks. Das betrifft aber nicht nur das, was ich gemacht habe, sondern auch das, was ich nicht gemacht habe. Man hat mit mir über die Intendanz der Deutschen Oper und der Lindenoper gesprochen, aber ich hatte jedes Mal das Gefühl, dass ich da nicht der Richtige bin. Und ich habe auch über die Salzburger Festspiele nachgedacht. Der wesentliche Punkt war dann, dass ich mir nicht vorstellen konnte, als ein Mitglied eines Dreierdirektoriums die Verantwortung für die künstlerische Gestaltung zu übernehmen. Ich schlug einen Intendantenvertrag vor – nun ja … Und am Ende hatte ich in Stuttgart auch wirklich viel mehr Gestaltungsfreiheit und in Hans Tränkle, dem geschäftsführenden Intendanten, einen wunderbaren Partner, der es verdient, Hilmar Hoffmann an die Seite gestellt zu werden. Auch Tränkle war ein Kunstermöglicher im allerbesten Sinne: uneitel, hochkompetent, ein wirklicher Kämpfer für die Kunst. Ohne ihn wären all unsere Erfolge – sechsmal Opernhaus des Jahres in 15 Jahren! – in Stuttgart nicht möglich gewesen.