Adolphe Binder, 1969 in Rumänien geboren und 1978 nach Deutschland emigriert, ist seit einem Jahr Leiterin des Tanztheaters Wuppertal – und damit Nachfolgerin von Pina Bausch. Das schreibt sich leichter, als es ist. Denn das Erbe der wohl größten deutschen Tanzikone acht Jahre nach ihrem Tod anzutreten ist eine von der Tanzöffentlichkeit viel beachtete Aufgabe. Wobei Adolphe Binder einen entscheidenden Vorteil mitbringt: Sie ist keine Choreographin, sondern dramaturgisch denkende Kuratorin und Netzwerkerin. Wahrscheinlich war genau das nötig: in diesen sensiblen Bausch-Mikrokosmos jemanden von außen zu holen und eben keine neue künstlerische Monokultur.
Dass Adolphe Binders Biographie derart in diesen Schwerpunkt passt, zeigte sich erst während des Gesprächs: Noch im geisteswissenschaftlichen Studium in Hannover (Literatur, Politik, Philosophie und Geschichte) gründete sie eine universitäre Koordinierungsstelle für Studentinnen und schrieb in den 1990ern eines der ersten Genderbücher in Deutschland („Von tanzenden Kleidern und sprechenden Leibern. Crossdressing als Auflösung der Geschlechterpolarität?“). Doch in der akademischen Laufbahn fühlte sie sich zu blockiert, brauchte mehr Gestaltungsspielraum – und ging für kurze Zeit ans Schauspiel Hannover zu Ulrich Khuon. Die folgenden Jahre waren geprägt von verschiedensten Erfahrungen, die ihr diese multiple, freie Perspektive aufs Kunstermöglichen gaben. In Hannover lernte sie Erhard Friedrich vom gleichnamigen Verlag kennen und arbeitete in seiner Berliner Dependance für die Zeitschriften tanz, Theater heute und Opernwelt. Über den Kontakt zu Richard Cragun vom Stuttgarter Ballett drang sie weiter in die Tanzszene ein, wurde unter seiner Ballettdirektion an der Deutschen Oper Berlin Dramaturgin, kuratierte das Kulturprogramm der EXPO 2000 in Hannover mit und ging dann wieder ans Theater, diesmal an die Komische Oper in Berlin, ehe sie ihre eigene Kreativagentur Binder + Partner Berlin gründete und sieben Jahre leitete.
Viele debattenreiche Jahre in der Hauptstadt hat sie miterlebt, unter ihrer Leitung wurde die einzige zeitgenössische Compagnie eines Berliner Opernhauses abgewickelt: das Tanztheater der Komischen Oper, gerade als Binder das Profil erfolgreich Richtung Ur- und Erstaufführungen ausgerichtet hatte.
Trotz dieser ernüchternden Erfahrung liebt sie Berlin bis heute, hat noch ihre Wohnung dort. Ein Stück Heimat? „Ich glaube, es ist kein Zufall, dass ich mich in diesem internationalen Tanzmikrokosmos so zu Hause fühle, das hat viel mit Nomadentum zu tun, der Erfahrung des Weggehens und einer Identitätssuche.“ Als sie mit neun Jahren das diktatorische System Rumäniens verließ, war das Nichtzurückkönnen prägend. Heimat ist für sie seither weniger ein Ort als vielmehr das Zusammensein mit Menschen.
In Schweden nutzte Adolphe Binder ihre internationalen Kontakte: als Künstlerische Direktorin der Göteborger Danskompani, die sie von 2011 bis 2016 leitete. Auch hier die Neuprofilierung als Ziel vor Augen mit dem Novum, als Teil eines Opernbetriebs nur zeitgenössische Tanzkreationen zu zeigen, mit einer vormals eher neoklassischen Compagnie. Keine leichte Berufung auch das. Sucht sie sich diese Herkulesaufgaben bewusst? Neuausrichtung als Lebensaufgabe? „Stimmt, ich war meist diejenige, die eingeladen wurde, um transformatorische Prozesse anzustoßen. Vermutlich suche ich das. Es ist ein großer Reiz, zu formen, man braucht einen bestimmten Antrieb?… Mir ist es wichtig, zu gestalten, neue Impulse zu geben, zu hinterfragen.“
In Wuppertal ist die Situation ähnlich und doch ganz anders. Binder soll (endlich) Neukreationen verwirklichen, gleichzeitig jedoch ein Repertoire von gut 40 Werken pflegen – und das mit einem Ensemble, von dem nur die Hälfte der aktuell 36 Mitglieder noch selbst mit Pina Bausch gearbeitet haben. „Mit dem Tanztheater ist etwas Einzigartiges entstanden: ein quasi anarchisches Künstlertum innerhalb einer Stadttheaterstruktur.“ Das „Wunder von Wuppertal“, wie sie es nennt, wurde es, ein weltweiter Exportschlager ist es bis heute: Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch tourte bisher in 38 Ländern, spielt bis heute regelmäßig auch in seiner Heimatstadt.
Wunderbar zu beobachten ist nun für Binder, wie sich drei Generationen von Bausch-Tänzern in den Proben zu den zwei Uraufführungen dieser Spielzeit völlig neu kennenlernen. Hierfür hat sie zwei transdisziplinär arbeitende Künstler eingeladen, den Griechen Dimitris Papaioannou und den Norweger Alan Lucien Øyen. Beide sind hierzulande zwar gänzlich unbekannt, was sicher vorteilhaft ist für einen Neubeginn, in ihren Themen aber sehr nah bei Pina Bausch und für Binder „geistig verwandt“ mit ihr. Papaioannou zum Beispiel, der am 12. Mai sein „Neues Stück I“ zur Uraufführung brachte, kommt ursprünglich aus der bildenden Kunst, ist Maler, Regisseur, Choreograph, Performer und verfolgt in seinen Arbeiten die Frage, was es bedeutet, Mensch zu sein, zu erinnern. „Wir wollen ja nicht die Handschrift von Frau Bausch nachahmen, sondern Kerne verschmelzen!“, urteilt Binder über die Wahl ihrer beiden ersten Gastchoreographen.
Nur drei Wochen später zeigt Alan Lucien Øyen sein „Neues Stück II“. Mit dem norwegischen Choreographen, Regisseur und Dramatiker hat Adolphe Binder bereits zusammengearbeitet, er lotet mit seinem cineastischen Stil gern die Grenzen aus im Zusammenspiel von Tanz, Theater, Text und Film. Auch für ihn stehen der Mensch, sein Gedächtnis im Zentrum, seine Verletzbarkeit. Dass beide Neukreationen innerhalb der Spielzeit so dicht beieinanderliegen, hat konzeptionelle Gründe: Beide Choreographen arbeiten mit jeweils dem halben Ensemble – Binder möchte jedoch mit allen zugleich durch die Uraufführungsaufregung gehen. Gearbeitet wird verteilt auf zwei Probebühnen: in der Lichtburg (ein altes Kino und seit den 1980er-Jahren Studio des Ensembles) und im Foyer des ehemaligen Schauspielhauses.
Die Raumsituation ist ein Thema, das sich mit dem geplanten Bau des Pina Bausch Zentrums hoffentlich in absehbarer Zeit ändern wird. Das Konzept dieses Projektes umfasst vier Säulen: Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, die Pina Bausch Foundation mit ihrem Archivauftrag, ein Produktionszentrum und ein Bürgerforum. Hierfür soll ein mehrgeschossiger Neubau das denkmalgeschützte Wuppertaler Schauspielhaus ergänzen, das dem Tanztheater jahrzehntelang als Spielstätte diente, bis es 2013 renovierungsbedürftig geschlossen wurde. Wenn der Durchführungsbeschluss des Stadtrates wie erhofft vor dem Sommer kommt, ist die Eröffnung für 2024 geplant. Die Baufinanzierung steht, lediglich die Frage, wer die laufenden Betriebskosten trägt, ist noch unklar.
Für Binder ist der Neubau dieses Tanzzentrums nicht nur eine Frage der Spielstätte, sondern die Frage nach zukunftsfähiger Arbeitsweise: „Weltweit werden wenige Tanzhäuser gebaut. Wir müssen selbst definieren, wie wir das Haus gut aufstellen, es mit neuen Kommunikationsformen verbinden; Beteiligung und Netzwerke werden immer wichtiger! Welche Spielformen wollen wir uns in Zukunft erobern?“
Genauso entschieden und zukunftsgerichtet betrachtet Binder die aktuelle Genderdebatte. Die Quotenfrage ist für sie eine „wahnsinnig komplexe“; sie war von jeher bemüht, Frauen Raum zu geben. Ihre Vision als Intendantin geht aber über Geschlechterfragen hinaus. Sicher gibt es sehr viel zu ändern, doch müsse man auch die Fortschritte sehen: „Noch Ende der 1970er-Jahre brauchte man als Frau in Westdeutschland die Unterschrift des Ehemannes, wenn man arbeiten gehen wollte!“ Es ist also einiges passiert. Trotzdem: „Es muss gemeinsam verändert werden, auch Männer müssen sich bewusster werden über dieses bis heute große Unrecht. Ob man das über eine Quote hinkriegt, vielleicht, ich weiß es nicht. Aber die Perzeption, die Sensibilisierung muss wachsen.“
Am Ende diskutieren wir diverse Studien zu Geschlechterstereotypen, zu Wahrnehmung und Projektionen. Binder: „Ähnliche Verhaltensweisen bei unterschiedlichen Geschlechtern werden immer unterschiedlich interpretiert. Das ist sehr kurios! In rigiden Systemen stößt man da schnell an Grenzen. Diese Verhärtung müssen wir aufweichen. Ich merke es bei der jüngeren Generation der Kolleginnen, die haben Haare auf den Zähnen, ein neues Selbstvertauen, und das befördere ich. Es ist wichtig, hier nicht zu sanktionieren. Spannendes entsteht ja gerade aus einem gewissen widerborstigen Potenzial – wir machen schließlich Kunst!“