Was hier im Bild des Flusses angedeutet wird, verweist auf diese Metapher der Sprach- beziehungsweise Textfläche: So wird die glatte Außenansicht einer aus der Vogelperspektive wahrgenommenen Flusslandschaft evoziert, genauer: der Blick auf die Tektonik einer Sprachkruste, wie ihn die Schriftstellerin in ihrem 1996 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg unter der Regie von Thirza Bruncken uraufgeführten Stück „Stecken, Stab und Stangl“ anregt. Darin wendet sie sich am Beginn des Teils „EINER, EGAL WER“ mit den folgenden Worten an die Zuschauer:
„Bitte, sehen Sie hier eine flache Landschaft, in die versenkt Jauchegruben, Ziegelteiche, Erdhügel ruhen, eine Ebene, die gleichmütig von sich selbst fortstrebt! Sie ist leer und doch wieder nicht, das sehen Sie doch, oder?“
Sprachkruste und Sprachlandschaft
Wie diese Sprachkruste aufgebaut ist, welche Strukturen und Bewegungen es in ihr gibt, und vor allem, dass hiermit keine reale Landschaft, sondern die Sprachlandschaft des Stückes selbst vorgeführt wird, wird dem Zuschauer erst am Ende deutlich. Dann zeigt sich, dass sich unter dieser „gleichmütig von sich selbst fortstrebenden Textlandschaft“, das Thema eines Mordes an vier Roma im burgenländischen Oberwart und der Umgang damit in der medialen Öffentlichkeit verhandelt wird. Die oben erwähnten „Jauchegruben, Ziegelteiche, Erdhügel“ verweisen metaphorisch auf die Vielfalt miteinander verflochtener Zitate, Textfetzen und Textstellen unterschiedlichster Herkunft, aus denen sich die Sprachfläche des Stückes zusammensetzt. Dies ist ganz im Sinne des Literaturtheoretikers und Philosophen Roland Barthes (1915-1980), der in seinem 1968 erschienenen Essay „Der Tod des Autors“ dem modernen Text das Charakteristikum zuschreibt, nicht mehr nur „aus einer Wortzeile“ zu bestehen, „die einen einzigen gewissermaßen theologischen Sinn (das wäre die ‚Botschaft‘ des ‚Autor-Gottes‘) freisetzt, sondern aus einem mehrdimensionalen Raum, in dem vielfältige Schreibweisen, von denen keine ursprünglich ist, miteinander harmonieren oder ringen: Der Text ist ein Geflecht von Zitaten, die aus den tausend Brennpunkten der Kultur stammen.“
Diese Befreiung des Textes (und seiner Interpretation) aus der Herrschaft des Autors führt zu einer völlig veränderten Rolle des Lesers, aber auch des Regisseurs und ganz besonders der Schauspieler, die nunmehr keine Rollen verkörpern, sondern lediglich als „Sprachträger“ fungieren. Hierauf bezieht sich Jelinek in „Textfläche“, wenn sie sagt:
„Es heißt, postmoderne Autoren lassen den Autor sterben, damit der Leser, der Theatergeher, leben soll, die Figuren sollen auch leben, wie sie wollen, ich zwinge ihnen nichts auf. […] Ich gebe ihnen nichts, ich schenke ihnen nichts. Ich gebe ihnen höchstens Saures. Sie müssen sie erst suchen, die Rollen.“
Schneelandschaft oder Teppichfläche?
Damit wird keineswegs postmoderner Beliebigkeit und Undeutbarkeit das Wort geredet – ein Vorwurf, der nicht selten an progressive Texte herangetragen wird. So glatt die Oberfläche dieser Texte, die Jelinek in ihren dramentheoretischen Überlegungen in „Textfläche“ abwechselnd mit einer „Schneelandschaft“ oder mit einer riesigen Teppichfläche vergleicht, auf den ersten Blick erscheinen mag, so ungeheuer vielfältig, kunstvoll und anschlussfähig an die unterschiedlichsten Denk- und Interpretationsmöglichkeiten, sind sie. „Meine Arbeitsweise funktioniert,“ so verdeutlicht Jelinek in ihrem frühen Theateressay ‚Ich schlage sozusagen mit der Axt drein‘: „wenn es mir gelingt, die Sprache zum Sprechen zu bringen, durch Montage von Sätzen, die verschiedene Sprachen miteinander konfrontiert, aber auch durch Veränderung von Worten oder Buchstaben, die im Idiom verhüllte Aussagen entlarvt. Auf der Bühne interessieren mich nicht Charaktere mit dem Nimbus von ‚Persönlichkeit‘, sondern Prototypen. […] Die Figuren auf der Bühne stehen für etwas, sie sind für mich Werkzeuge, mit denen ich meine Aussage machen will, denn ich glaube an das Theater als ein politisches Medium.“
Eine Stimme unter vielen
Der vielzitierte „Tod des Autors“ bedeutet also nicht, dass Jelinek als Autorin nicht in ihren Texten anwesend ist, beziehungsweise, die Textgeflechte keine „Botschaft“ vermitteln würden: Sowohl bei Barthes als auch bei Jelinek geht es nicht um den Text als ein beliebig gestaltetes, urheberloses Geflecht; vielmehr wandelt sich der traditionelle Autor in einen modernen „Schreiber“ (Barthes), der all die Stimmen mischt und sich selbst als weitere Stimme in den modernen Text einschreiben kann. Auch hierüber reflektiert Jelinek in „Textfläche“, diese dabei in eine Teppichlandhaft verwandelnd, beziehungsweise – mit einem Wortspiel – in sogenannte „Auslegware“: „Vielleicht erkennen Sie das Andere, das Fremde, auf meinem Teppich (und der Teppich selbst ist mir ja fremd, gestern ist der noch nicht da herumgelegen) deshalb nicht, weil schon ich es zuvor nicht erkannt und ganz anders ausgelegt habe? Meine Auslegung werden Sie hier nicht finden, die ist schon auf dem Teppich, die bleibt auf dem Teppich, die hebt nicht ab. Die Auslegware trägt bereits meine Zeichen, die Wäscherei hat sie nicht rausgekriegt, dafür neue reingemacht, tipp tipp tipp, hier sind ein paar davon, ich tippe die Zeichen von anderen, aber nicht so, wie der Andere sie gemeint hat. Das wäre ja witzlos. Dann könnte dieser Andere das ja schreiben, und ich würde mir die Arbeit sparen, obwohl ich nichts damit verdient hätte. Diese Zeichen von anderen sind Zeichen für anderes und für andere.“
Selbstironie und Bedeutungstiefe
Selbstironisch die Stimmen jener Leser und Interpreten vorwegnehmend, die ihrem Werk lediglich mit einer Konsumhaltung begegnen, leugnet Jelinek vordergründig die Bedeutungstiefe ihrer Dramen, evoziert diese Tiefe jedoch gleichzeitig im Bild der Schneelandschaft, in die man unvermutet immer wieder einsinkt.
„Geht da was in die Tiefe bei dieser Fläche?, meines Wissens nicht, ich habe vorhin die Lawine ausgelöst, aber in die Tiefe bin ich nicht gegangen, eher habe ich oben was draufgehäufelt, aber wer braucht schon ein Wissen, geschweige denn meins? wozu diese Tiefe? Wer braucht die?“
Es bleibt dem Leser und dem Rezipienten der Texte selbst überlassen, wie tief er in diese Schneelandschaft einbrechen will um sie zu verstehen. Fest steht allerdings, dass er sie nicht begreift, wenn er sie allein an ihrer Oberfläche zu lesen versucht. Das heißt, man kann sie nicht linear lesen, sondern man muss sie „durchqueren“, so Roland Barthes in „Von Werk zum Text“, um sie in ihrer „seriellen Bewegung von Versetzungen, Überlappungen und Variationen […] erfassen zu können.“ (Barthes: „Vom Werk zum Text“, 1971)
Aber wie lässt sich ein Text durchqueren? Wie kann man in seine Tiefe hinabsteigen? „Andocken erwünscht!“ Dieser Satz Jelineks aus ihrer „Hommage für George Tabori“ ließe sich auf die Situation des Interpreten übertragen. Andocken an Stellen, die befremden und irritieren, an den Kanten der Textflächen, andocken an die kunstvoll geschlossenen Nähte der einzelnen Textteile, sie auftrennen und sich von dort aus – stets neue Textflächen abtragend – in die Tiefe der Tektonik der Sprachflächen Jelineks vorarbeitend. Es gilt, die dort entstehende Spannung, die sich mitunter in einem literarischen Erdbeben entlädt, zu verstehen und auszuhalten.