Nora und Ulrich Khuon auf der Dachterrasse des Schauspielhauses Hannover

Der Familiengipfel

Ulrich Khuon (Intendant am Deutschen Theater Berlin) und Tochter Nora (Dramaturgin am Schauspiel Hannover) über die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben im Theater

aus Heft 03/2022 zum Schwerpunkt »Jung gegen Alt?«

Ulrich Khuon (Intendant am Deutschen Theater Berlin) und Tochter Nora (Dramaturgin am Schauspiel Hannover) über die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben im Theater

Ulrich Khuon Die Beobachtung stimmt, dass Theater über einen langen Zeitraum hinweg mit Begriffen wie Überforderung, Verausgabung kurzgeschlossen wurde. Als sei dieses Über-die-Grenzen-Gehen eine Bedingung für Gelingen. Dass Verausgabung und Überforderung punktuell zu Theater gehören, wird auch in Zukunft so sein, aber wenn man es nicht mit einem sozialen Bewusstsein verbindet, dann ist das eine gefährliche, fatale Konnotation. In meiner Generation wurde jungen Assistentinnen und Assistenten signalisiert: Das Theater ist halt so, deswegen muss man permanent zur Verfügung stehen.

Nora Khuon Ich glaube nicht, dass man einen Endprobenprozess so gestalten kann, dass man sein Leben weiterlebt wie Menschen, die in sehr geregelten Systemen arbeiten. Das sind andere Arbeitsrhythmen; dafür gibt es auch Zeiträume, in denen man wirklich Luft hat. Die Frage ist, wo zieht man welche Grenze, und wird diese Grenze anerkannt? Was zählt die Familie? Für mich ist es weniger die Frage der Überforderung im Betrieb selbst als die, ob das Theater den Rest des Lebens bestimmt.

Ulrich Khuon Den ideologischen Anspruch, es darf nichts anderes geben als Theater, fand ich immer falsch. Ich bin eher Späteinsteiger, habe Verschiedenes studiert und dann hauptberuflich erst mit 30 am Theater begonnen. Eine andere Welt zu erfahren, in der Familie und im gesellschaftlichen Raum etwa, und diese dann wieder ins Theater zu bringen schien mir immer wichtig.

Nora Khuon Für dich würde ich das auch so beschreiben. Aber nicht für deine Generation. Der Fokus auf Verausgabung im Theater, dass es eine Schwäche sei, wenn man das anders sieht, oder gar ein Kündigungsgrund – das ist systemisch. Das ging auch nicht nur von größenwahnsinnigen Theaterleiter:innen aus, ich würde es vielmehr als systemimmanent beschreiben. Sicherlich hat das vor euch begonnen. Ich hatte zum Beispiel in meiner ersten Spielzeit als Dramaturgieassistentin zwölf Produktionen zu betreuen und dachte, das sei normal. Mit der Fotografin, die uns hier fotografiert und die damals Hausgraphikerin war, traf ich mich nachts um 23:30 Uhr, um die Programmhefte zu machen. Eigentlich absurd. Das wäre heute glücklicherweise nicht mehr möglich. Es lag damals nicht daran, dass der damalige Intendant individuell Druck auf mich ausgeübt hätte. Es war vielmehr eine Form der Normalität, die herrschte und sich so auf mich übertragen hat.

 

Nora Khuon im Gespräch mit ihrem Vater (Foto: Kerstin Schomburg)

Ulrich Khuon Man ist ja oft blind für das eigene System. Es wird immer davon ausgegangen, man würde die ganze Theaterlandschaft mitreflektieren. Im Grunde sitzt man aber an seinem Haus – und ist da vielleicht auch blind. Ich war bei der ersten Jahreshauptversammlung vom ensemble-netzwerk dabei – als Gast oder Gegenpol, aber auch aus Neugierde und in einer Bereitschaft, mich auszutauschen. Und ich muss sagen, was da erzählt und berichtet wurde, war schon erschreckend. Wenn man bei so einer Tagung in Tischgesprächen im direkten Austausch gespiegelt bekommt, was einen als Intendant direkt betrifft, dann muss ich das, was du sagtest, voll bestätigen.

Nora Khuon Das ensemble-netzwerk hat begonnen, das festgefahrene System anzutasten. Und das ist natürlich auch eine Generationsfrage, aber nicht nur. Meine Generation oder die knapp über mir ist vielleicht die verschlafenste. Es gibt ein großes Selbstbewusstsein bei Jüngeren, weil sie sich nicht mehr so abhängig machen. Die jetzt 50-Jährigen waren früher dankbar, überhaupt am Theater zu sein. Das begegnet mir jetzt ganz selten. Für mich ist es ein positiver Effekt, dass man angstfrei argumentieren kann, weil man sich nicht mehr komplett über dieses System der Abhängigkeit definiert, sondern ein eigenes Selbstbewusstsein entwickelt und dennoch dankbar ist, diesen Beruf ausüben zu können – nur nicht unter al­len Umständen.

Ulrich Khuon Das sind ja so Wellenbewegungen mit den Generationen. Ich habe Ende der 1960er-Jahre als Student intensiver mit Theater zu tun bekommen. In Frankfurt war damals Peter Palitzsch als älterer Regisseur in diesem Mitbestimmungstheater, und Hans Neuenfels war Mitte 30. Und das Ensemble war extrem jung und selbstbewusst. Es ist kein Zufall, dass wir in den 1970er- und 1980er-Jahren in Konstanz eine junge Sparte gegründet haben. Das war kein Alibi, sondern eine kräftige Bewegung, auch mit Schauspielerinnen und Schauspielern, die sehr jung waren, denen man aber zugehört hat.

 

Das Gespräch fand im Foyer des Schauspiel Hannover statt (Foto: Kerstin Schomburg)

Nora Khuon Ich würde sagen, das waren Einzelne. Als Einzelne bekamen sie einen Raum, aber das war nicht systematisch. Das hat sich total geändert: Die Jungen kümmern sich jetzt nicht mehr nur um ihr eigenes Schicksal, sondern formieren sich als Gruppe und gewinnen dadurch ihre Schlagkraft und Wirkung. Es ist kein Einzelinteresse oder -bedürfnis, das von ihnen formuliert wird, sondern es handelt sich um systemische Veränderungen von Arbeitsverhältnissen, die für alle angestrebt werden. Und so kann man es auch für andere marginalisierte Gruppen beschreiben. Dabei denke ich, dass das dem Theater hilft. Das ist ein Prozess, der gesellschaftlich derzeit virulent ist. Die Öffnung der Theater und Ensembles und die Sehnsucht, Pluralität und Differenz hier zu verorten, hat ja nicht nur ein strukturelles Moment, sondern verändert die Kunst im Kern. Es ist nicht ein losgelöster Prozess um einen verkrusteten Betrieb herum. Vielmehr geht es darum, die Erzählungen zu verändern. Was geschieht beispielsweise, wenn Stimmen, die ich bisher vor allem als Opferstimmen wahrgenommen habe, ins Erzählen kommen, wenn sie empowernd sind? Die Frage nach Utopien, nach Alternativen, nach anderen Sichtweisen, das ist ein Grund, diesen Prozess zu gehen.

Ulrich Khuon Die Akteurinnen und Akteure finden es wichtiger, Teil des Prozesses zu werden. Ich habe gerade das Buch des Schauspielers Klaus Pohl über Peter Zadek gelesen. Dieser genialische Meister hat es über die Organisation von Krisen und ein genaues Verständnis von Psychologie geschafft – in gewisser Weise kann Frank Castorf das auch –, Ergebnisse und Menschen zu steuern. Dass diese extremen Wege auch extrem eindrucksvolle Ereignisse zeitigen, kann man schon sagen. Die Frage ist, was ist der Preis?

Nora Khuon Ich war auch schon in mehreren sektenartigen Verbindungen am Theater. Und da beschwört man herauf, dass es ganz toll werde in dieser Verausgabung und diesem Zusammenschluss und nur so gutes Theater entstehen kann. Manchmal ist das auch so, manchmal aber auch katastrophal. Es gibt einzelne Künstler:innen, denen es auf die eine oder andere Weise gelingt, die ihre Arbeitsweise und die dazugehörige Gruppe gefunden haben. Für mich gibt es nicht „die“ Arbeitsweise, die für alle gilt und die ich dann adaptiere. Entscheidend für das Ergebnis ist vielmehr, welche Arbeitsweise für mich und meine Gruppe passt. Wie finden wir gut zueinander, aufmerksam im Blick auf- und im Zuhören miteinander. Für ein ganzes Haus braucht es dann klare Regeln, Grenzen und auch einen Schutz der Mitarbeitenden.

 

Nora und Ulrich Khuon (Foto: Kerstin Schomburg)

Ulrich Khuon Ich empfinde Arbeit auch emotional als Wert. Ich habe mich immer in der Arbeit grenzenlos verwirklicht, und in der Kunst steigert sich das noch mal, weil man denkt, Kunst ist was Tolles, als sei die Arbeit schon Freizeit. Gerne viel arbeiten war für mich immer ein Ziel. Und wenn man sich in etwas hineinsteigert, ohne dass man es explizit fordert, dann redet man natürlich auch so, etwa in den Ansprachen ans Ensemble und Team.

Nora Khuon Diese Emphase finde ich ja toll, und ich glaube, dass man die total gerne mitnimmt; aber der Knackpunkt hierbei ist, ob man aus der Macht heraus spricht oder als jemand, der ein Stück spielt oder noch Assistent:in ist und für die der Ausspruch, unsere Arbeit ist wie Freizeit, vielleicht nicht gilt und die danach nicht handeln möchten, sondern es als unterschwellig ausgeübten Druck empfinden. Wir sitzen in Positionen und gestalten genau das. Und das ist ein Luxus und genauso Verantwortung, von unserer Lust abzusehen und eine lebbare Arbeitsstruktur zu erfinden.

Ulrich Khuon Meine Beobachtung war immer, dass man voneinander lernt. Das heißt nicht, dass ich mich als Älterer kleinmache und sage, ich weiß ja gar nichts mehr, sag mir, wie soll ich es machen. Aber dass man nicht umgekehrt dauernd so belehrend ist. Man kriegt auch durch die eigenen Kinder mit, dass man manches nicht mehr richtig checkt.

Nora Khuon Ich fand es als Kind toll, weil ich mich ernst genommen gefühlt habe, und ich denke, es war auch ernst gemeint, wenn du mir relativ früh Stücke zum Lesen gegeben hast. Ich weiß noch, mein erstes Stück war „Liebe für Liebe“: Du hast gesagt, guck dir das doch mal an und lass uns mal drüber reden. Es war wie eine Übung, wie andere Eltern mit ihren Kindern im Schwimmbad Saltos üben würden. Das war mit einer Lust verbunden; es war ein Spiel, das Alex und ich sehr gerne geteilt haben. Mit der Pubertät waren wir sehr ernst genommen in deine Gedanken und Überlegungen einbezogen. Das hat bei uns Kindern etwas ausgelöst: in der Betrachtung auf Theater und den Schaffensvorgang und sicherlich auch das Gucken.

Ulrich Khuon Das Theater ist bei allen Einschränkungen schon ein Zauberort inklusive aller Konflikte. Beim Blick hinter den Vorhang entsteht ein anderer Zauber. Rückblickend stelle ich fest, ich habe gar keine sicheren Standorte, die ich mein Leben lang verfolge. Eher Haltungen, die dann damit zu tun haben, was die Gruppe leistet, auch die Gruppe Familie. Ich war Anfang 40 und Nora 12 oder 13: Da war mir ihr Blick sehr wichtig, weil ich ihn ja nicht habe. Den eigenen Kindern, da man ja täglich miteinander lebt, kann man gefahrlos zuhören – das gilt aber auch fürs Theater. Früher war ich eher panisch, wenn das Ensemble etwas nicht gut fand, ich hatte die Sorge, mir kippt das Theater weg. Da merkt man nach einiger Zeit, das Ganze ist viel stabiler, als man denkt, und man kann vieles zulassen.

Nora Khuon Dabei weiß ich gar nicht, ob uns im Theater immer das Gleiche gefällt. Es ist aber wie eine Grundvereinbarung, wir haben eine ähnliche Grundhaltung. Es ist doch das Interessante, dass man im Gespräch ist. Deshalb haben wir nie über Theater gestritten, wenn man Streit als negativ begreift. Weil ich immer den Eindruck hatte, wir haben uns gerne zugehört. Das kann auch mal emotionaler werden, weil man es nicht versteht, man war aber nie gekränkt. Wir campen auf dem gleichen Feld. Und das fand ich immer toll. Oft kommt ja die Frage, wie es ist als Tochter und in diesem System, und was heißt das? Ich weiß nicht, ob man durch den Namen im Vorteil ist. Einige denken bestimmt, die will ich lieber nicht bei mir haben. Allerdings bin ich durch diesen Lebenslauf natürlich irrsinnig privilegiert. Dass man so aufwächst, diese Gespräche hat, ich dich und Alex als Gesprächspartner habe. Wobei ich mich aus dem Blick der Dramaturgie dir oft näher fühle. Dann telefoniere ich mit meinem Bruder. Und dann merke ich: So fühlt sich das für euch Schauspieler an. Mein Bruder erzählt mir das schonungsloser als andere Schauspieler, mit denen ich befreundet bin. Wir sprechen offener, in einer großen Nähe. Diese Form der Intimität und des Vertrauens teilt man mit sehr wenigen Menschen.

Ulrich Khuon Man hat auch deswegen keinen Streit, weil man sich gemeinsam an Dinge herantastet. Das ist dann wie in der Dramaturgie am Theater. In der Dramaturgierunde, die ich neben dem Ensemble als die wichtigste Herzkammer der Theaterarbeit ansehe, gibt es auch immer ein sehr zuhörendes Diskutieren. Mir begegnet selten, dass man gar nicht „mitkommt“.

Nora Khuon Es müssten schon monumentale Differenzen sein, wenn sie unsere Beziehung erschüttern sollten. Natürlich führen wir ein sehr unterschiedliches Leben. Du warst viel im Theater, aber dennoch sehr greifbar, kein abwesender Vater. Trotzdem war das eine klare Aufgabenverteilung zwischen dir und meiner Mutter. Bei mir ist das ganz anders. Ich arbeite Vollzeit, bin alleine mit zwei Kindern. Es ist halt anders, aber jedes hat seine Qualität. Das kann man in seiner Unterschiedlichkeit aber gut so stehen lassen. Du hast mir zumindest nie gesagt, dass du es merkwürdig findest, wie ich lebe.
Das Interview führte Detlev Baur (Foto: Kerstin Schomburg)

Ulrich Khuon Es sind ja keine starren Systeme. So etwas entwickelt sich biographisch. Entscheidend ist doch, dass Beziehungen liebevoll gelebt werden. Das Theater funktioniert besser über Sympathie. Mich mobi­lisiert Antipathie überhaupt nicht. Ich denke ohnehin, wenn man lange auf Menschen schaut, versteht man das meiste. Ich finde aber schon, die Diversität Jung-Alt wird in den
Diskussionen, die wir führen, total unterschätzt. Sie ist da nicht genügend präsent.

Nora Khuon Ich denke, dass es eine hohe Durchlässigkeit unter den Altersklassen in der Theaterarbeit gibt. Und das war für mich ein wichtiger Grund, ans Theater zu gehen. Ich habe es an wenigen Orten so empfunden, dass Menschen von unterschiedlichem Alter gleichberechtigt in Beziehung treten und arbeiten: egal, ob man Hochschulabgängerin ist oder eigentlich schon in Rente, aber noch weiterspielt, gemeinsam in einem Stück, an einem Thema, an einer Haltung arbeitet und eine Aufführung zustande bringt. Insofern ist Theater immer eine generationenübergreifende Arbeit miteinander. Ich habe das als junge Frau in den gelungenen Arbeitsbeziehungen genau so erfahren und suche nach wie vor danach. Nach der Fremde im Blick des anderen, dem Dialog über das Alter und die Erfahrungswelt, die das mitbringt, hinweg.

Ulrich Khuon Als ich zum DT kam, gab es einen Jugendclub. Wir haben dann das junge dt eingerichtet. Entscheidend war dabei: In so einem Haus braucht es die Spannung zu einer richtigen Truppe, die das manchmal selbstgenügsame erwachsene Theater durcheinanderwirbelt. Und oft gibt es gerade zwischen sehr Alten zu sehr Jungen eine besondere Verbindung.