„Das ist ein besonders dramatisches Beispiel“, so Intendant Knut Weber. „Wir haben durch all die Verschiebungen noch keinen Zeitpunkt gefunden, an dem wir diese Produktion neu ansetzen konnten. Ein Debakel, das uns seit über zwei Jahren prägt.“ Der Rückstau an Geplantem und zumindest teilweise bereits Realisiertem reicht bis in die Spielzeit 2022/23. „Wir haben uns noch immer nicht von dem Schock des ersten Lockdowns erholt“, so Weber. „Damals haben wir beschlossen, das gesamte Programm der Spielzeit um ein Jahr zu verschieben und dafür einen Joker-Spielplan aufgelegt, der auf die Hygienemaßnahmen reagieren konnte.“
Ersatzspielplan: Kleines statt Großes
Eine große „Tüftelaufgabe“, wie Beate Langner aus dem künstlerischen Betriebsbüro erzählt: „Im März hatten wir unsere Jahresdispo fertig. Die haben wir komplett weggeschmissen und ein ganz neues Abosystem aus dem Boden gestampft.“ All das zwischen personellen Engpässen, Krankheitsfällen, Quarantäneausfällen und Kurzarbeit. Der Ersatzspielplan folgte anderen Kriterien als üblich: eine kleine Besetzung etwa oder die Einhaltung von Verabredungen. „Es war uns wichtig, alle Personen, die mit dem Theater verbunden waren, zu halten“, so Weber. Der Regisseur Philipp Moschitz beispielsweise inszenierte zunächst das kleine Musical „Hedwig and the Angry Inch“, seine große Shakespeare-Produktion „Die 12. Nacht“ wurde in die Folgespielzeit verschoben. „Die Regisseure waren natürlich dankbar, dass ihnen die Jobs nicht weggebrochen sind“, so Weber. „Und sind dann schnell in neue Prozesse gesprungen; das hat trotz aller Enttäuschung eine enorme kreative Kraft freigesetzt.“
Man hoffte, ein Jahr später den ursprünglichen Spielplan nachholen zu können. „Aber auch das hat sich zerschlagen“, so Weber. „Das Frustrierende war das Gefühl der Ohnmacht“, erinnert sich Sabaschus. „Man reist nach der Generalprobe ab, ohne dass sich Konzentration und Arbeitsaufwand in der Premiere entladen durften. Stattdessen sitzt man ohnmächtig zu Hause.“ Die fertige Produktion ist nun eingemottet. Einen konkreten Plan gibt es noch nicht, eines ist für die Regisseurin allerdings klar: „So wie die Aufführung ursprünglich konzipiert war, würde sie ohnehin nicht mehr zur Premiere kommen. Da würde ich noch mal neu rangehen, ohne Coronaauflagen. Außerdem hat die Thematik des Stücks Deutschland inzwischen neu eingeholt, in der Zwischenzeit sind Querdenker mit Judensternen auf der Straße herumgelaufen. Das hat eine ganz andere Gegenwärtigkeit bekommen.“
Einsame Proben und Automaten-Bier
Marcelo Diaz hatte da Glück im Unglück: Seine Inszenierung von „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ hatte mit einem Jahr Verspätung im November 2021 Premiere. Schon die Probenzeit war geprägt von komplexen Abstands- und Hygienevorgaben und einer großen Unsicherheit, erinnert er sich: „Am Ende jeden Satzes stand ein ‚Wenn überhaupt‘.“ Trotzdem: Die Proben waren gut, auch wenn die einzige Möglichkeit der Geselligkeit danach das Bier aus dem Automaten vor der Pforte war. „Für mich wäre es am schlimmsten gewesen, wenn wir mitten in den Proben hätten aufhören müssen“, so Diaz. „Ich war unheimlich erleichtert, als klar war, dass wir weiterproben dürfen.“ Trotzdem: „Irgendwann wird man im Theater müde, nur vor den eigenen Beteiligten zu spielen. Wir hatten dann eine interne Premiere, zu der aber nur der Intendant kommen konnte.“ Vor der öffentlichen Premiere ein Jahr später probte er noch einmal zwei Wochen mit seinem Ensemble, viele der Coronaauflagen waren obsolet geworden. Die Anpassung in diese Richtung war „easy“, so Diaz, und alle waren erleichtert, endlich spielen zu dürfen.
Digital statt analog
Alexander Nerlich warf seine Pläne für E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“, den er im Frühjahr 2021 inszenieren wollte, schon vor Probenbeginn über den Haufen und machte aus der analogen eine digitale Produktion. „Wir hatten ohnehin vor, den Stoff in eine digitalisierte Gegenwart hineinzudenken“, erinnert er sich. „Wir wollten uns Nathanael als Mitarbeiter eines Forschungsprojekts zur künstlichen Intelligenz vorstellen. Seine Fixiertheit auf die technischen Gerätschaften und die Veränderung des Blicks durch mediale Kommunikation hätten auch da eine Rolle gespielt.“ Nerlich beschloss, sich von den Vorgaben unabhängig zu machen, die gesamte Produktion digital im Zoom zu konzipieren. „Die Arbeit mit verschiedenen Kameraperspektiven passt gut zu dem Gefühl des Überwacht- und Fremdgesteuert-Werdens. Ich hatte große Lust, das auszuprobieren.“
Zu diesem Zeitpunkt gab es am Theater Ingolstadt noch keine Infrastruktur für derartige Projekte, die Produktion wurde mit „einem luxuriösen Aufwand“ gestemmt. Die Aufführung sollte live stattfinden, das war Nerlich wichtig, aber die Umsetzung war herausfordernd. Man arbeitete mit verschiedenen Kameraperspektiven, um die Illusion zu erschaffen, die Figuren wären im selben Raum, obwohl sie sich wegen der Coronavorgaben in unterschiedlichen Räumen aufhalten mussten. Livebilder wurden gemischt mit Filmsequenzen, und das Publikum konnte auf das Geschehen Einfluss nehmen.
Inzwischen hat das Theater eine digitale Sparte gegründet, fünf Stellen geschaffen. „Beim ,Sandmann‘ haben wir viele Federn gelassen“, sagt Weber. „Das ist eine ganz andere Arbeitssituation und war für uns völlig neu. Für die nächsten Jahre entwickeln sich in Kooperation mit dem Staatstheater Augsburg neue Formate, das wird künstlerische Impulse setzen.“
Für die nächste Spielzeit steht eins im Zentrum: die Rückkehr zum ursprünglichen Abosystem, zu einem planbareren Alltag, auch wenn es Knut Weber graut beim Gedanken an den Herbst. Ist das Theater flexibler geworden in diesen zwei Jahren? „Ja“, ist sich Weber sicher. „Zum Beispiel der Satz: ‚Der Lappen muss hochgehen.‘ Das stimmt nicht mehr. Es gibt Situationen, da kann und darf er nicht hochgehen. Innerhalb des organisatorischen Gerüsts hat ein Theater viele Freiheiten, wir sind geschult im Improvisieren – und sind es nach Corona vielleicht noch mehr.“