In Hamburg hat John Neumeier mit „Ghost Light“ ein Ballett für Kleingruppen entworfen

Avantgarde oder weiter so?

Wie die Einschränkungen der Corona-Krise die Ästhetik der kommenden Spielzeit prägen: Unsere Vorschau auf eine Saison voller Ungewissheiten in Schauspiel, Tanz und Musiktheater

aus Heft 09/2020 zum Schwerpunkt »Saisonvorschau 2020/21«

Wie die Einschränkungen der Corona-Krise die Ästhetik der kommenden Spielzeit prägen: Unsere Vorschau auf eine Saison voller Ungewissheiten in Schauspiel, Tanz und Musiktheater

Schauspiel: Der Kanon bleibt, Gesellschaftsdystopien kommen

Text_Detlev Baur

Anzeige

Die Sprechtheater-Spielpläne kamen später und sind noch unvollständig, trotzdem weichen sie für die Saison 2020/21 nicht radikal von denen der Vorjahre ab. Corona hat das Theater zwar wochenlang lahmgelegt – den Stückekanon aber wird es nicht radikal ändern. Es gibt weiterhin Klassiker und Uraufführungen, Unterhaltsames und Ernstes – so jedenfalls die Theorie in den Plänen der Theater.

Dennoch hat die Corona-Krise auch Spuren in den Spielplänen hinterlassen. Am Staatsschauspiel Dresden will Sebastian Hartmann seine Inszenierung von „Der nackte Wahnsinn“, eine Komödie um den ganz normalen Theaterwahnsinn, auf die aktuellen strengen hygienischen Auflagen für die Theater adaptieren. Rainald Grebe will am selben Haus eine „Theaterphantasie mit Abstand“ wagen, unter dem Titel „Einmeterfünfzig“. Andere Theater planen kleine Corona-Formate wie „Corona-Solos“ am Badischen Staatstheater, oft auch revueartig, wie das Theater Krefeld Mönchengladbach mit einer Corona-Revue, das Schlosstheater Moers mit einer „musikalischen Impfung“ und das Theater Rudolstadt mit „Ellenbogen Ellenbogen“.

Zudem soll es zu Corona passende Ausgrabungen geben: Das Staatstheater Wiesbaden plant George Bernard Shaws Krankenhausbettendrama „Doktors Dilemma“; Albert Camus’ Corona-Reseller „Die Pest“ wird noch von zwei Theatern angeboten (Wiesbaden und Paderborn) – hier haben die Theater ihr Pulver bereits in Lesungen oder Streamingformaten verschossen. Es fragt sich ohnehin, ob kurzgeschlossene Verbindungen alter Texte mit der gegenwärtigen Situation sinnvoll sind. Ich habe meine Zweifel, ob eine Inszenierung des „König Ödipus“ schon deswegen von Interesse ist, weil es hier zu Beginn der Tragödie um das Leiden der Stadt an einer Seuche geht.

Roland Schimmelpfennig hat schon ein Corona-Stück geschrieben, „Der Kreis um die Sonne“ wird am 14. November am Münchner Residenztheater uraufgeführt. Ulrich Rasche will dort zum Saisonstart – ohne aufwendige Bühnendrehscheiben – Kleists Postkatastrophen-Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ zeigen. Diese Inszenierung steht eher für die subkutan sich mit der Pandemie und ihren Folgen auseinandersetzenden Stoffe, zu denen auch zweimal „Der Zauberberg“ zählen könnte. Das könnte packend werden. Direkter setzen sich die Münchner Kammerspiele in Anouk van Dijks und Falk Richters spartenübergreifender Eröffnungspremiere mit der Krise auseinander, „Touch“ soll ein akutes Dilemma zum zentralen Punkt einer Beziehungserforschung machen.

Corona beeinflusst nicht nur notgedrungen die Arbeitsweisen am Theater, sondern auch unser Gefühl für Zeit und Tod. Gesellschaftsdystopien – etwa die Roman-adaption „Die Hochhausspringerin“ in Bern – sind von jeher ein Lieblingsthema des Theaters. Rainald Goetz’ neues Stück, das Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufführen will, heißt denn auch „Reich des Todes“. Ferdinand von Schirachs „Gott“ wird coronabedingt erst jetzt aufgeführt werden, doch auch Horváths „Jugend ohne Gott“ steht in der Liste der meistgespielten Texte weit vorne.

Zeitreisen in eine wenig erfreuliche Zukunft erleben in der Planung der Schauspielhäuser einen auffälligen Boom: Das Theater Bern plant die Uraufführung von Lukas Linders „Mein Sommer mit Kim“, einer „grotesken Zeitreise“, in Gießen hat Clemens J. Setz’ neues Stück „Erinnya“ erstmals Premiere. Am Schauspiel Dortmund startet Julia Wissert in ihre Intendanz mit „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden“, und in Kassel wird die Uraufführung von Falk Richters „Welcome to Paradise Lost“ zu sehen sein.

Auch Stücke zum Klimawandel lassen sich unter die skeptischen Zeitreisen fassen, darunter die „Klima-Trilogie“ von Thomas Köck am Thalia Theater Hamburg in Christopher Rüpings Regie oder Katie Mitchells Inszenierung der Post-Tschechow-Variation „Die Bäume“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Das Stück verspricht einen Perspektivwechsel von den Menschen im „Kirschgarten“ hin zu den stillen Opfern des Abholzens.

Perspektivwechsel stehen auch im Umgang mit Klassikern an. Die Berliner Volksbühne plant die ganze Spielzeit mit antiken Stoffen, darunter Umschreibungen, Projekte und „Metamorphosen“. Auch im Umgang mit Schiller, Shakespeare oder Ibsen sind zahlreiche Um- oder Überschreibungen geplant. Aber ob sie nun neue Blicke versprechen oder eher wohlfeile Verkürzungen bieten, müssen wir in der kommenden Saison beobachten.

Ein Trend im Repertoire scheinen neben den skeptischen Zeitreisen auch die gruseligen Blicke in Krimi und Horror. Viermal steht „Frankenstein“ auf dem Programm der Schauspielhäuser. Der Regisseur und Bühnengestalter Ersan Mondtag ist hier ein prägender Vorreiter; seine Stückentwicklung mit Benny Claessens am Maxim Gorki Theater heißt passenderweise „It’s gonna get worse“. Auch neue Stücke arbeiten mit Grusel und -Psychothriller, in Osnabrück wird Rebekka Kricheldorfs „Das Waldhaus“ uraufgeführt als „Thriller über Verschwörungstheorien und eine dunkle Parallelgesellschaft“. Ins Morbide passt auch das neue Stück von Franzobel, das Nikolaus Habjan mit echten und künstlichen Menschen am Burgtheater zeigen will: „Der Leichenverbrenner“ dreht sich um einen ordnungsliebenden Todeswütigen; der historische Hintergrund im „Dritten Reich“ macht das Stück noch schauerlicher.

 

Tanz: Alles wird anders, Uraufführungen allerorten

Text_Ulrike Kolter

Keine Frage: Die coronabedingten Abstands- und Hygieneregeln werden die Bühnenästhetik aller Sparten beeinflussen. Zumindest was die kommende Spielzeit angeht, für die sich viele Theater bis Redaktionsschluss nur partiell oder bis Jahresende festgelegt haben. Der vom Mainfranken Theater Würzburg genutzte Begriff „Teilspielzeit-Programm“ beschreibt trefflich, was momentan eben nicht möglich ist: Ganzspielzeitplanung.

Während sich im Schauspiel (laut Prognosen meines Fachkollegen) der Stückekanon nicht radikal ändern wird und das Musiktheater (nach Einschätzung meines Opernkollegen) versucht, das Standardrepertoire auf coronakompatible kammermuskalische Formate herunterzurechnen, zeigt der Blick in die bis dato geplanten Tanzpremieren deutlich: Hier wird alles anders.

Muss es ja auch mit den gebotenen sechs Metern Abstand auf der Bühne, weitestgehend ohne Berührungen, Hebungen und große Ensembleformationen. Folglich sucht man klassische Handlungsballette mit der Lupe, das Aalto Ballett in Essen etwa konstatiert für die komplette Spielzeit, John Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“ coronabedingt nicht realisieren zu können. Wo es Handlungsballette gibt, sind es neue Werke wie die für November geplante „Undine“ von Karl Alfred Schreiner am Gärtnerplatztheater oder Christopher Wheeldons „Cinderella“-Erfolgskreation am Bayerischen Staatsballett, deren Neueinstudierung mit über 40 Tänzerinnen und Tänzern für Dezember ziemlich optimistisch datiert ist. Der Großmeister aller Großballette hingegen hat aus der Not schon frühzeitig eine Tugend gemacht und ein Ensembleballett in Fragmenten aus Kleingruppen entworfen: „Ghost Light“ ist ab Anfang September beim Hamburg Ballett zu sehen; womöglich wird es der situierten Formensprache Neumeiers einen Schub geben, nur in Miniaturen arbeiten zu können.

Jenseits dessen: Uraufführungen allerorten. Der spielerische Umgang mit Abstandsregeln (Dominique Dumais: „So nah und doch so fern“ in Würzburg, Antoine Jully: „1,5 m“ in Oldenburg, Juanjo Arqués/Demis Volpi: „Far and near are all around“ an der Rheinoper in Düsseldorf oder „LAB_WORKS COVID_19“ vom Staatsballett Berlin), das Ausloten von Spannungsverhältnissen zwischen Nähe und Distanz (Iván Pérez: „Oscillation“ am Theater Heidelberg, Mauro de Candia: „Kunstraub“ in Osnabrück) oder Einsamkeit als Topos des Humanen (Mario Schröder: „Solitude“ beim Ballett Leipzig). Womöglich erweisen sich in diesen Produktionen die physischen Ausdrucksmöglichkeiten des Tänzerkörpers als geradezu prädestiniert, um neue ästhetische Formate zu finden und auf der Bühne all den mentalen und realen pandemischen Wahnsinn der letzten Monate zu verarbeiten. Fürs Publikum ebenso wie für die trainingshungrigen, auftrittsbegierigen Tänzerinnen und Tänzer.

Abstand zu halten bleibt wohl noch ungewisse Zeit das Gebot der Stunde, und wer nicht über die ausufernde Bühnenbreite etwa der Staatsoper Hamburg verfügt, muss sich etwas einfallen lassen. Das Anhaltische Theater Dessau nutzt für Stefano Giannettis Uraufführung „Toccata 20“ (dt.: Berührung) die offene Bühne im Bauhausmuseum, die genug Raum für Abstand zwischen Publikum, Tanzenden und Musikern bietet. Und am Staatstheater Braunschweig entwirft Gregor Zöllig mit „Die Zeit ist reif. Ein Manifest für die Gemeinschaft“ einen Tanzparcours durch die Räume des Theaters und fragt, wie unser soziales Miteinander überhaupt weitergehen kann.

Sicher haben es Choreographen, deren Kernthemen um Isolation kreisen, derzeit leichter, wie Marco Goecke in der Südwestpresse Mitte Juli beschreibt: „Ich habe viel über Kollegen nachgedacht, die gern mit Gruppenformationen arbeiten. Die kommen jetzt in Teufels Küche.“ Man darf sich bei „Lieben Sie Gershwin?“ auf eine Uraufführung mit Gauthier Dance am Theaterhaus Stuttgart freuen, die der neue Hannoveraner Ballettdirektor dort ab Oktober zeigt. Solange unsere Zwischenmenschlichkeit auf 1,50 Meter definiert bleibt, muss auch der Tanz damit umgehen. Dortmunds Ballettintendant Xin Peng Wang bringt Mitte Oktober mit „Abstand“ eine Uraufführung heraus, die zum Spielzeitmotto taugt: „In meiner Muttersprache besteht das Wort für ‚Krise‘ aus zwei Zeichen. Jedes für sich gelesen, bedeuten sie: ‚Gefahr‘ und ‚Chance‘.“ – Wie schlau waren die alten Chinesen!

 

Musiktheater: Das Repertoire wird kammermusikalisch

Text_Andreas Falentin

Im Musiktheater ist es der große Aufwand, die pure Masse an Menschen und Interaktionen, die ein „Weiter so!“ unter Corona-Bedingungen schlicht unmöglich machen. Das führt dazu, dass einige Opern- und Mehrspartenhäuser Anfang Juli noch keinen Spielplan für die nächste Saison veröffentlicht hatten. Nicht so die Wiener Staatsoper, seit Juli vom Ex-Sony-Manager Bogdan Rošcic geleitet und von Chefdramaturg Sergio Morabito konzeptionell betreut: Die hat zehn große Premieren angekündigt, und zwar, bis auf Henzes „Verratenes Meer“, sämtlich Mainstreamrepertoire. Am Start ist ausschließlich Regieprominenz, Besetzungsdetails wie Elina Garancas Rollendebüt als Kundry lassen konservative Opern-Afi-cionados mit der Zunge schnalzen. Aber wie wird sich das alles auch nur mit einem Minimum an Abstandsregeln umsetzen lassen?

Viele andere Häuser wollen ebenfalls nicht vom Standardrepertoire lassen und versuchen, es durch Kammermusikfassungen zu „retten“. Was sich kaum attraktiv denken lässt. Vielversprechender lesen sich die Überschreibungsvorhaben, auf beherrschbares Niveau kleingerechnete und dezidiert von heute betrachtete Paraphrasen bekannter Stücke. Michael Wilhelmis und Nadja Loschkys „Dunkel ist die Nacht, Rigoletto“ in Bielefeld, Schorsch Kameruns Ravel-Projekt „Die verzauberte Welt“ in Stuttgart oder Charlotte Seithers „Fidelio“-Projekt in Gelsenkirchen lesen sich interessant und bringen wie nebenbei den vielen in der Oper immer noch als sakrosankt geltenden Werkbegriff ins Wanken. Dazu gibt es eine Tendenz, die große Orchesterliteratur auf die Bühne zu hieven, weil es zumindest da dann kein Gedränge gibt. So verspricht das unmögliche Stück Musik „Lied von der Erde“ von Gustav Mahler zumindest ungewöhnliche Theaterabende in Gera und Stuttgart. Und in Berlin versucht sich die Deutsche Oper zur Eröffnung der Spielzeit an Beethovens 7. Sinfonie unter dem leicht reißerischen Titel „Baby Doll“. Auch die Hamburgische Staatsoper (mit der Weill-Brahms-Ligeti-Collage „molto agitato“ statt des ursprünglich geplanten „Boris Godunow“) und das Staatstheater Darmstadt (mit „Atem“, einem Projekt des Intendanten Karsten Wiegand) nehmen mit ihren Eröffnungsabenden konkret Bezug auf das Coronavirus.

Eigentlich verlangt die aktuelle Situation ja vor allem Reduktion, schlanke Apparate, was repertoirehistorisch betrachtet ein Mehr an neuer und alter Musik bedeuten müsste. Abgesehen von klein besetzten Stücken wie „Hanjo“ von Toshio Hosokawa (noch mal Braunschweig) oder Luca Francesconis Heiner-Müller-Paraphrase „Quartett“ (an der Staatsoper Berlin, bereits vor Corona geplant), die in anderen Ländern längst Teil des erweiterten Repertoires sind, findet sich neue Musik allerdings kaum in den Spielplänen. Was die alte Musik angeht, haben Pasticcios Hochkonjunktur: Man kreiert ein neues Werk aus Fragmenten von bereits Vorhandenem. Mit Barockmusik veranstalten das unter anderem die Oper Dortmund („Sehnsucht“), das Theater Krefeld Mönchengladbach („The Plague“) und die Staatsoper Hannover („Trionfo“). Sehr spannend in diesem Zusammenhang liest sich „Summernightdreamers“. Die Saisoneröffnungspremiere am Theater Heidelberg verbindet Altes mit Neuem, Purcell mit Britten mit dem Zeitgenossen John Casken.

Aus der Menge der Opernspielpläne stechen vier Häuser klar heraus, die sich bis Ende Dezember Spielpläne vorgenommen haben, die ohne Pausen und auf Abstand realisierbar sind und doch theatralische Vitalität und ästhetische Vielfalt vereinen wollen. Hier gibt es viel mehr zu sehen als ins Hygienekon-zept passende Einakter oder zusammengestrichene Standard-opern. Vom mit Urban Dance versetzten Barockprojekt und  einem von einem Cartoonisten ausgestatteten „Dschungelbuch“ (am Theater Kiel) über „Wegwerfopern“ und ein gemeinsames Projekt mit den Oper-Experimental-Berserkern Novoflot (am Deutschen Nationaltheater Weimar) bis hin zu Theatereroberungsgala, multimedialem Opernpuppenspiel und auf drei Tage portioniertem Wagner-„Tristan“ (an der Deutschen Oper am Rhein). Und in Berlin verantwortet Barry Kosky an seiner Komischen Oper gleich alle fünf Projekte – von Beckett und Schönberg bis zur „Blume von Hawaii“ – selbst und überschreibt unter dem Titel „Die (verzauberte) Zauberflöte“ sogar eine eigene Kult-inszenierung.

Und dann gibt es da noch die Oper Wuppertal. Corona hin oder her: Was für ein Spielplan! Nur zwei Mainstreampremieren („Zauberflöte“ und „La traviata“), dazu eine schräge Operette (Sullivans „Piraten von Penzance“), Nonos „Intolleranza“ (inszeniert von Altmeister Dietrich W. Hilsdorf), eine Verschmelzung von Richard Strauss’ „Ariadne“-Vorspiel mit Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“, viel für Kinder, Jugendliche und Familien, auch Partizipatives und eine Neuauflage des weit in die Stadt hineinwirkenden Independent-Festivälchens „Sound of the City“. Könnte so nicht Oper sein? Heute, morgen, übermorgen?