Kerstin Grübmeyer und Christian Holtzhauer vom Nationaltheater Mannheim im Gespräch

Anwälte der Ideen

Chefdramaturgin Kerstin Grübmeyer und Schauspielintendant Christian Holtzhauer vom Nationaltheater Mannheim über die neue Rolle von Dramaturginnen und Dramaturgen

aus Heft 02/2021 zum Schwerpunkt »Die neuen Schöpfer«

Chefdramaturgin Kerstin Grübmeyer und Schauspielintendant Christian Holtzhauer vom Nationaltheater Mannheim über die neue Rolle von Dramaturginnen und Dramaturgen

Frau Grübmeyer, Herr Holtzhauer, die Corona-Krise hat mittlerweile auch schon eine fast einjährige Geschichte. Wie hat sich bei Ihnen der Spielplan durch Corona konkret geändert?

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Kerstin Grübmeyer Nachdem sich im April die erste Schockstarre gelöst hatte, fingen wir an, uns in der Dramaturgie Projekte zu überlegen, aber auch das Ensemble einzuladen, eigene Ideen zu entwickeln – für Soloprojekte oder Projekte, die „coronakompatibel“ waren. Als wir dann im Juni/Juli entschieden, den Spielplan für die neue Saison weitgehend so wie geplant zu belassen, kamen diese Projekte natürlich noch obendrauf. Wir haben uns also pandemiebedingt eigentlich mehr Arbeit gemacht – schöne Projekte! Aber eben mehr als sonst. Das gilt in meiner Wahrnehmung für sehr viele Dramaturgien in Deutschland.

Christian Holtzhauer Gleich im März haben wir das „NTM digital“ ins Leben gerufen – nach nur einer Woche, was für einen so großen Betrieb erstaunlich schnell ist. Dieser Kanal war in erster Linie als Kommunikationsangebot gedacht. Es stand jedoch von Anfang an der Wunsch im Raum, ihn irgendwann auch für künstlerische Projekte zu nutzen. Mitte Mai brachte dann das Junge Nationaltheater erstmals eine Produktion ausschließlich im digitalen Raum zur Premiere.  Da hat sich tatsächlich ein Gruppengefühl eingestellt. Man hat sich gleichzeitig im digitalen Raum versammelt und bekam auch eine Ahnung davon, wer die anderen sind. Später haben wir mit „Umgraben“ einen Audiowalk konzipiert, für den wir mehrere uns besonders eng verbundene Autor*innen baten, Texte über Mannheim zu schreiben. Das war in einer Zeit, in der sonst nicht viel ging, ein besonders coronataugliches Format und eine gute Möglichkeit, den Autor*innen etwas Geld zukommen zu lassen. Spätestens nach den Sommerferien war aber klar: Jetzt werden alle Ressourcen gebraucht, um unseren ambitionierten Spielplan umzusetzen, sodass wir den digitalen Bereich erst mal nicht richtig weiterverfolgt haben, was sich vielleicht nun (zu Beginn des zweiten Lockdowns) ein bisschen rächt.

 

Welche Projekte aus der ersten Phase waren denn besonders wichtig?

Christian Holtzhauer Neben den digitalen Versuchen vor allem zwei Produktionen, die aus dem Ensemble heraus entstanden sind: „Faust“ als Livehörspiel im Autokino und eine Performance mit Dada-Texten, die sich zwei Schauspieler selbst ausgedacht haben. Die haben wir im Frühjahr in unserem ebenfalls während des ersten Lockdowns entstandenen Theatergarten auf dem Theatervorplatz aufgeführt; seither ist sie mit großem Erfolg durch mehrere Stadtteile gezogen. Das Projekt hat auch inhaltlich besonders gut gepasst, weil die Absurdität dieser dadaistischen Texte ein guter Kommentar war auf die absurde Zeit, die wir alle miteinander gerade erlebt hatten. Und diese Produktion werden wir immer spielen können, weil sie außer einer Steckdose nichts braucht.

 

Was hat sich geändert am „Projekte-Erfinden“? Wo sind die Unterschiede zur Zeit vor der Pandemie?

Christian Holtzhauer Wir haben uns gefragt: Was können wir noch machen, wenn uns der gesamte gewohnte Theaterapparat nicht zur Verfügung steht? Wir sind dann sehr schnell zurückgekommen auf die Grundverabredung von Theater: Ein*e Darsteller*in und das Publikum. Zum anderen hat sich bei mir der unbändige Wunsch entwickelt, mit anderen Institutionen in der Region gemeinsame Sache zu machen: mit der Kunsthalle, den Nibelungenfestspielen, der freien Szene. Und wir sind alle zusammen in eine sehr intensive Debatte eingestiegen, die immer noch andauert: Was bedeutet dieser Ausnahmezustand inhaltlich? Was für ein Theater wollen wir machen?

Kerstin Grübmeyer Der Schöpfergeist weitet sich von der Dramaturgie in die Ensembles aus, das habe ich an anderen Häusern auch wahrgenommen, da ist so viel entstanden, ein wahres Überschäumen. Und die Pandemie verändert unsere Sicht auf die Themen: Als wir im Frühsommer auf unsere bereits geplante Spielzeit schauten, wurde klar, dass unsere Projekte diese neue Situation so gut spiegeln, dass wir „Die Pest“ und „Decamerone“ gar nicht brauchen. Wir stellten fest, dass fast alle unsere vor Corona geplanten Vorhaben sich intensiv mit dem Thema „Beziehungen“ befassten, ein Thema, das durch die Pandemie sehr relevant ist: Wie verändert Corona unsere Beziehungen zueinander und zur Welt?

 

Verändert sich das Repertoire also dauerhaft?

Christian Holtzhauer Wenn wir irgendwann in den Normalbetrieb zurückkehren, wird eine entscheidende Frage sein, was für Stücke wir ansetzen müssen, damit das Publikum wieder in Scharen kommt. Unser treuestes Publikum hält uns die Stange und spart auch nicht mit Solidaritätsbekundungen; aber je länger das alles andauert, desto mehr verlieren wir die Menschen, die dem Theater nicht ganz so eng verbunden sind. Dabei hatten wir vor dem ersten Lockdown viele erfolgreiche Schritte unternommen, uns mit Stücken wie „Ellbogen“ und „Istanbul“ oder der neuen Reihe „Das Haymatministerium“ der migrantisch lesbaren Stadtgesellschaft in Mannheim zu öffnen. Dass wir dieses Publikum im Moment nicht erreichen können, erfüllt mich mit Sorge.

 

Bei dem Dada- oder dem „Faust“-Projekt gab es keinen Regisseur. Ist die Dramaturgie hier der entscheidende Partner im Produktionsprozess?

Christian Holtzhauer Ich finde, dass die Rolle der Dramaturgie in der Krise tatsächlich noch einmal wichtiger geworden ist. Es ging – und geht – darum, schnell Ventile für die kreativen Ideen des Ensembles und der Dramaturgie zu finden und sich Formate auszudenken, die jenseits des normalen Theaterbetriebs stattfinden konnten beziehungsweise können. Für diese Projekte ist die Dramaturgie zentral, um die oftmals spontan entstandenen Ideen weiterzuentwickeln. Zumal es bei uns einen besonders engen Draht zwischen Ensemble und Dramaturgie gibt. Dieser „künstlerischen Selbstermächtigung“ des Ensembles wollen wir auch in Zukunft Rechnung tragen, indem wir die Spielzeiten nicht mehr so voll packen, wie wir es bisher getan haben, sondern weiterhin Freiräume für eigene Vorhaben schaffen. Bereits im Frühjahr hatten außerdem zwei Kolleg*innen aus der Dramaturgie damit begonnen, sich auf das Thema „digitales Nationaltheater“ zu konzentrieren. Sie werden die Arbeit daran auch künftig fortsetzen, weil wir da jetzt Feuer gefangen haben.

 

Kann man also sagen, dass das ganze Ensemble des Hauses dramaturgischer denkt als vor Ausbruch der Pandemie, vielleicht auch gesellschaftliche, politische, arbeitstechnische Fragen stärker mitdenkt?

Kerstin Grübmeyer Langfristig ist es sowieso unser Ziel, das Ensemble immer mehr in inhaltliche Entscheidungen einzubeziehen. Jetzt laufen gerade auch ein paar inhaltliche Fäden zusammen, die schon länger rumliegen, die man jetzt bündeln kann: die Lust an eigenen Projekten; wie können wir Kommunikation und Austausch anders und neu gestalten oder auch Diversität und Diskriminierungssensibilität als große Themen.

Christian Holtzhauer Corona funktioniert gleichzeitig als Verhinderer und Ermöglicher. So ist zum Beispiel der Austausch über die Arbeit extrem kompliziert geworden. Es gibt keine Kantine mehr, es gibt das gesellige Nach-der-Probe-Zusammensitzen nicht mehr, wo man die Probe noch mal Revue passieren lassen kann. Gleichzeitig sind wir im digitalen Raum enger zusammengerückt und stellen uns viel vehementer die Frage: „Was wollen wir hier voneinander? Warum machen wir das, was wir machen, und warum machen wir das genau so?“

 

Wie entwickelt sich insgesamt das Verhältnis der Dramaturgie zur Regie? Sind die Dramaturginnen und Dramaturgen noch darauf angewiesen, dass die Regisseure oder Regisseurinnen mit ihnen zusammenarbeiten wollen?

Kerstin Grübmeyer Seit ich Dramaturgin bin (seit 2009) habe ich nur ganz selten erlebt, dass ein Regisseur, eine Regisseurin sich abschottet oder nicht beraten lässt oder die Zusammenarbeit scheitert. Natürlich treffen immer ganz unterschiedliche Menschen aufeinander. Da stimmt dann die Chemie oder auch mal nicht so sehr. Aber die Grundverabredung, dass ich als Dramaturgin das gemeinsam entwickelte Projekt kritisch spiegele und als inhaltliche Partnerin begleite, das finde ich selbstverständlich. Ich würde mit Regisseur*innen, die das anders sehen, auch nicht arbeiten wollen.

Christian Holtzhauer Die Zusammenarbeit zwischen den Regisseur*innen und unserer Hausdramaturgie ist während der Krise eher noch intensiver geworden. Das trifft auch auf mich zu: Ich glaube, dass ich noch nie so viel telefoniert habe wie in der Zeit des ersten Lockdowns.

 

Romanbearbeitungen spielen generell in Ihrem Spielplan eine große Rolle. Besteht da für die Dramaturgie ein zusätzlicher Reiz im kreativen Prozess der Bearbeitung?

Kerstin Grübmeyer Wir machen in Mannheim Uraufführungen von dramatischen Texten und spielen auch neue Dramatik nach, was mindestens so wichtig ist. Es kommt aber darauf an, wonach der Spielplan mehr schreit, auch, was den Künstler*innen mehr liegt, mit denen wir zusammenarbeiten möchten. Da hat eben der eine oder die andere auch mal keine Lust auf neue Dramatik und findet es vielleicht reizvoller, sich an einem Roman oder einem Klassiker abzuarbeiten oder ein eigenes Stück zu entwickeln. Ich finde es schöner und auch richtiger, eine größere Auswahl an Stoffen zu haben, die auf die Bühne kommen können, als sich zu beschränken und zu sagen: Das Theater hat nur Theaterstücke auf die Bühne zu bringen. Was nicht heißt, dass wir unsere Autor*innen nicht schätzen, im Gegenteil, wir arbeiten sehr eng zusammen, insbesondere mit unseren Hausautor*innen Enis Maci (2018/19), Sivan Ben Yishai (2019/20) und jetzt Necati Öziri (2020/21).

Christian Holtzhauer Wenn wir über den Spielplan sprechen, dann sprechen wir über Themen, Stoffe und Stücke. Wenn uns ein Thema interessiert, fragen wir uns, wie wir das am besten behandeln können. Manchmal mit einem bereits existierenden Stück, manchmal mit einem Romanstoff, manchmal entsteht der Text auch erst auf den Proben. Gerade im letztgenannten Fall kommt der Dramaturgie dann die Aufgabe zu, das zusammenzuhalten und zu verdichten.

 

Verändert es die Arbeitsweise der Dramaturgie, ob man jetzt Schiller inszeniert, ein neues Stück oder einen Roman? Und wo ist dann das „Werk“? Verbinden Sie einen Werkbegriff auch mit der literarischen Vorlage oder einzig mit dem, was auf der Bühne entsteht?

Christian Holtzhauer Natürlich ist ein literarischer Text ein Werk, aber es ist nicht das Werk, auf das es im Theater vor allem ankommt. Für mich ist entscheidend, was am Ende auf der Bühne geschieht. Da spielt der Text eine Rolle, genauso wie die Spieler*innen mit ihrer Gestaltung einer Figur oder Aufgabe (auch das sind letztendlich Werke!), Inszenierung, Musik, Ausstattung … Mich interessiert, was passiert, wenn eine Gruppe von Menschen mit unterschiedlichem künstlerischen Background sich für eine bestimmte Zeit gemeinsam zurückzieht, sich zu einem Thema, Stoff oder Stück ins Verhältnis setzt und dann das Ergebnis dieser Auseinandersetzung auf der Bühne präsentiert. Theater, das sich in erster Linie als das Abspielen von Literatur begreift, interessiert mich nicht.

 

Der Umgang mit den Werken und dem Werkbegriff hat sich ja in den letzten 20 oder 30 Jahren stark verändert. Wie hat sich in dieser Zeit der Dramaturgenberuf verändert?

Kerstin Grübmeyer Dramaturg*innen haben seit Langem nicht mehr ausschließlich mit Literatur und Theater zu tun, sondern müssen sich heute auch in anderen Künsten auskennen, sich gesellschaftspolitisch orientieren … Dramaturgie ist ein Beruf geworden, in dem wir ständig in alle Richtungen unsere Fühler ausstrecken und versuchen, das, was wir durch Lesen, Recherche und natürlich Leben herausfinden, ins Theater zurückzutragen und in sinnvolle Projekte zu verwandeln. Wir konzipieren, organisieren, kommunizieren und vermitteln, alles gleichzeitig und aufeinander bezogen.

Christian Holtzhauer Weil die Programmgestaltung der Häuser so vielfältig geworden ist und längst über die reine Präsentation von Theatervorstellungen hinausgeht, ist der kuratorische Aspekt wichtig geworden. Dramaturg*innen werden zudem immer wichtiger, wenn es darum geht, enge Verbindungen zu bestimmten Akteur*innen der Stadtgesellschaft herzustellen und zu schauen, ob sich daraus künstlerische Projekte realisieren lassen. Und natürlich wird es künftig noch mehr Mitarbeiter in der Dramaturgie geben, die sich um digitale Formate und Erzählweisen kümmern, die wir erst mal lernen beziehungsweise entwickeln müssen.

 

Hat sich auch das Verhältnis von Dramaturg*innen und Autor*innen verändert? Arbeiten Dramaturgen nicht, etwa wenn sie einen Roman bearbeiten, auch wie Autoren?

Christian Holtzhauer Es gibt ja diesen Satz, den Klaus Zehelein erfunden hat: „Der Dramaturg ist der Anwalt des Textes.“ Im Grunde finde ich den immer noch richtig, würde ihn aber für heute umformulieren und sagen: „Die Dramaturg*innen sind die Anwält*innen der Idee.“ Weil wir ja nicht mehr zwangsläufig von einem bestimmten Text ausgehen, aber in jeder Produktion von einer konkreten Idee. Und diese Idee zu verteidigen ist eine wesentliche Aufgabe der Dramaturgie.

Kerstin Grübmeyer Es gibt viele Möglichkeiten, was Dramaturgie sein kann. Das hängt auch damit zusammen, an welchem Ort oder welchem Haus der/die Dramaturg*in engagiert ist. Die Frage ist: Liegt mir Festivaldramaturgie am besten? Bin ich gerne Produktionsdramaturgin für ein Ensembletheater? Oder entwickle ich gerne eigene Konzepte und spiele am Ende auch noch selbst? Oder alles zusammen?

Christian Holtzhauer Natürlich ist jede Stadt anders und jedes Haus anders aufgestellt. In Mannheim haben wir für uns beschlossen, die Idee des Ensembletheaters hochzuhalten. Das heißt, es ist für uns besonders wichtig, die 21 Spieler*innen, die wir hier versammelt haben, besonders gut vorkommen zu lassen, sie als Gesicht des Hauses und sein künstlerisches Kraftzentrum zu begreifen und trotzdem im Spielplan die Themen und Formen unterzubringen, die uns wichtig sind. Das sagt sich leicht, ist aber, wenn man sich eine gemeinsame Theatersprache erarbeiten will, auch ein mehrjähriger und sehr intensiver Prozess. Das immer wieder zu erklären und die Wünsche, Ansprüche und Ideen, die sich daraus ergeben, in konkrete Projekte zu übersetzen ist eine weitere Aufgabe der Dramaturgie.

 

Also ist es nicht hauptsächlich die Aufgabe des Intendanten, auf die besonderen Begabungen und ihre Förderung zu schauen?

Christian Holtzhauer Auch, natürlich. Für mich ist es immer ein Geflecht von verschiedenen Aspekten. Ich versuche die vielen Faktoren, die für ein Theater in einer bestimmten Stadt eine Rolle spielen, so zueinander ins Verhältnis zu setzen, dass eine produktive und unverwechselbare Mischung entsteht. Insofern verstehe ich meine Arbeit als Intendant auch als dramaturgische Arbeit. Eine wesentliche Frage, die mich dabei treibt, ist: Wie kann das Theater einen Beitrag zur öffentlichen Debatte in dieser Stadt leisten?