Mit wesentlich größeren Lücken beim Quellenmaterial als beim „Totentanz I“ musste das Rekonstruktionsteam um Henrietta Horn (verantwortlich), Susan Barnett und Katherine Sehnert hier umgehen, was verdeutlicht, wie sehr Aufarbeitungen wie diese zwangsläufig zu Neuinterpretationen werden. Vor allem die nachgebildeten, wallenden Kostüme und die Musik unterstreichen den historischen Charakter der Arbeit. Die eigentliche Choreographie, die Bewegungen der aufgescheuchten Gruppe der Untoten, der traurig sich windenden, weiblichen Gestalt, die immer wieder ihre Arme von sich streckt und nach oben öffnet, und die beschwörenden Gesten des Dämons, sie haben schon moderne Züge, sodass sie dem Zuschauer im Jahr 2017 bei aller historischen Distanz etwas zu sagen haben. So werden Rekonstruktionen zu einem sinnstiftenden und berührenden Erlebnis, erzeugen sie doch erst dort, wo der zeitlose, stilprägende Charakter des modernen Tanzes durchscheint, einen künstlerischen Ertrag.
Unerlässlich bleiben hierfür auch die modernen choreographischen Auseinandersetzungen mit dem Thema, die auch hier die historischen Teile des Abends ergänzen. Wahrlich elektrisierend ist Marco Goeckes 2009 entstandene Choreographie „Supernova“. Jede kleinste Bewegung scheint körperlicher Ausdruck eines letzten Aufbäumens zu sein, die Goecke-typischen, vibrierenden und rasend schnell geschüttelten Arme und Hände sowie trippelnden Füße zu den nahezu mechanisch steifen Beinen und Oberkörpern scheinen dem Sinnbild der Supernova, eines noch einmal hell leuchtenden, dann sich selbst zerstörenden Sterns, förmlich zu entsprechen. Immer wieder werden die Tänzer von der Dunkelheit der hinteren Bühne verschluckt, um dann unerwartet wieder daraus hervorzustoßen (das Konzept für das Licht hat der Designer Udo Haberland entwickelt, mit dem Goecke regelmäßig zusammenarbeitet), wie Sinnbilder beständig auftauchender und verschwindender Existenzen. Die Tänzer fräsen sich an diesem Abend mit ungeheurer Präzision durch das Jahrhundert der Tanzgeschichte, durch extrem unterschiedliche choreographische Handschriften, wofür man ihnen (wie auch dem Rekonstruktionsteam und seinen Anstrengungen) wahrlich Anerkennung schuldet.
Am Schluss folgte Mauro de Candias „Sacre“-Uraufführung. Der Leiter der Osnabrücker Dance Company hat dafür Strawinskys Fassung für zwei Klaviere zugrunde gelegt, hat sich jedoch choreographisch von dem ursprünglichen Szenario, dem rituellen Huldigungstanz und dem finalen Opfertod, weit entfernt. Ein einzelnes Opfer gibt es nicht, vielmehr soll wohl deutlich werden, wie wir alle heutzutage zu Opfern eines ritualisierten Alltags geworden sind. Doch gerade der ent-individualisierte Charakter des Rituellen blitzt in der Bewegungssprache leider nur momentweise auf, beispielsweise, wenn die Tänzer in einem sich immer enger schließenden Kreis agieren oder alle in derselben, liegenden Pose verharren. Zwischen diesen ästhetischen Lichtblicken zerfasert die Kreation leider oft ins Assoziativ-Beliebige, sie verdeutlicht zwar die Dissonanzen der Komposition, ist aber der dramatischen Ausdruckskraft der Musik in weiten Teilen nicht gewachsen. Etwas zögerlich wirkte auch der Applaus – der für „Supernova“ und die „Totentanz“-Rekonstruktionen deutlich begeisterter ausfiel.