Foto: Arabella von Richard Strauss, Regie: Tobias Kratzer, Premiere am 18. März 2023 Deutsche Oper Berlin, © Thomas Aurin
Text:Klaus Kalchschmid, am 19. März 2023
Die letzte Zusammenarbeit von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal gehört zu ihren schönsten und hintergründigsten Werken, auch wenn der Dichter nach der geglückten Revision des ersten Akts mögliche Wünsche der Änderung am Text von Akt 2 und 3 nicht mehr vornehmen konnte und Strauss aus Pietät das Libretto Wort für Wort vertonte. An der Deutschen Oper Berlin spielte man die Originalfassung in drei Akten mit allen teils sehr kurzen Chor-Szenen, die in der Fassung mit nahtlosem Übergang vom zweiten in den dritten Akt fehlen.
Vielleicht hatte diese Entscheidung mit der szenischen Fassung von Regisseur Tobias Kratzer, Bühnenbildner Rainer Sellmaier und den Video-Künstlern Manuel Braun und Jonas Dahl zu tun, die für jeden Akt eine neue Optik und damit auch dezidierte Deutung des Geschehens vorsieht: Im 1. Akt ist die Bühne zweigeteilt, zeigt minutiös realistisch nachgebaut das Wien um 1860, wie in der Handlung vorgesehen. Links sieht man ein Hotelzimmer, das als Salon fungiert, rechts mal den Empfang des Hotels, mal das angrenzende Schlafzimmer. Oft ist eine der beiden Bühnen verdeckt, daher sind auf einer Leinwand in Schwarz-Weiß Details des gegenüberliegenden Raums zu sehen, die live gefilmt werden. Da gibt es manch‘ hübsche Nebenhandlung und spannende Nahaufnahmen zu sehen, aber die Notwendigkeit der szenischen und filmischen Auffächerung ist nicht immer zwingend.
Ganz anders der 2. Akt, der als Reliefbühne gestaltet ist mit einem Ballsaal hinter drei Türen. Durch sie spült es immer wieder Tanzpaare, die von Jeroen Verbruggen sehr fein erotisch choreografiert sind, während im Vordergrund das erste, immer wieder unterbrochene Gespräch zwischen Arabella und ihrem heiß ersehnten Mandryka stattfindet. Er ist wunderlicherweise identisch mit dem reichen Neffen des väterlichen Regimentskameraden, womit Liebes- und Vernunftheirat glücklich in eins fallen – wäre da nicht Zdenka, die Schwester Arabellas. Sie wird als Junge verkleidet zum besten Freund und Vermittler für Matteo, der eine geradezu wahnwitzig obsessive Liebe zu Arabella entwickelt hat. So sieht der arme Zdenko schließlich keinen anderen Ausweg, als sich ihm hinzugeben und so zu tun, als wäre sie Arabella.
Das lässt diese feinsinnig ironische Komödie fast in die Tragödie kippen, doch Kratzer geht mit den vielleicht etwas unglaubwürdigen Elementen der Verwechslungskomödie kreativ um, indem er den von Strauss minutiös auskomponierten Beischlaf im Film auf großer, die Bühne im 3. Akt dominierender Leinwand zeigt. Da erkennt Matteo an einem aufgeklebten Schnurbärtchen, dass die vermeintliche Arabella Zdenko ist, während wenig später es doch noch zur fassungslos entgleisenden Auseinandersetzung zwischen Matteo und Arabella kommt, die beide die vergangene halbe Stunde so konträr erlebt haben. Kurz vor dem verzweifelten Auftritt von Zdenka/Zdenko, die/der sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, zeigt ein Film wie sie im Duell von Mandryka und Matteo verletzt wird, als sie in die Schusslinie gerät. Dann ist die Bühne plötzlich leer: Wir sind im Heute angekommen und Kratzer hat sichtlich Spaß daran, die Auflösung der „Lyrischen Komödie“ mit ein paar Gags anzureichern – etwa wenn Arabella und Mandryka das symbolisch aufgeladene Wasser der Reinheit nicht trinken, sondern sich lustvoll damit bespritzen.
Über die Zeiten hinweg
So erzählt das Regie-Team die Handlung auf verschiedenen, sich vermeintlich widersprechenden Ebenen. Dafür springt es zwischen Raum und Zeit, etwa wenn im zweiten Akt die Türen als Pforten einer Reise in die Zukunft fungieren. Am Ende ihres großen Liebesduetts (während dessen sie schon mal mit anderen tanzen!) verschwinden Mandryka und Arabella nach hinten und kommen kurz darauf wieder: er mit offenem Kragen und loser Fliege, sie im 1920er-Jahre-Look mit langem Mundstück eine Zigarette rauchend. Bis zum Ende des Akts wechselt sie immer wieder ihr Kleid (Kostüme: Rainer Sellmaier und Clara Luise Hertel), bis sie schließlich Pullover, Jeans und offene Haare trägt. Auch Tänzer, Statisten und Nebenrollen sind in der Entstehungszeit der Oper Ende der 1920er-Jahre angekommen auf einem ausgelassenen Ball, bei dem Geschlechteridentitäten und sexuelle Orientierungen wechseln bis eine Razzia von Braunhemden, die auf das Datum der Uraufführung (den 1. Juli 1933) anspielt, dem Treiben ein vorläufiges Ende bereitet.
Tobias Kratzers Personenregie ist ebenso kreativ und ausgefeilt wie sein Konzept, was den Nebenhandlungen feingeschliffenes Profil gibt. Komödiantische Würze verleiht er der aufdringlich konkurrierenden Werbung der Grafen Elemer (herrlich affektiert: Thomas Blondell), Dominik und Lamoral, denen die beiden Stipendiaten der New York Opera Foundation Kyle Miller und Tyler Zimmermann, große Glaubwürdigkeit verleihen als blutjunge Verehrer. Die Eltern von Arabella und Zdenka, Graf Waldner (auftrumpfend kernig: Albert Pesendorfer) und Gräfin Adelaide (zwischen Grand Dame und Domina: Doris Soffel) genießen es sichtlich, einmal mehr sein zu dürfen als Stichwortgeber. Hye-Young Moon kann die schrägen Koloraturen der Fiakermilli nicht nur perfekt singen, sondern sie mit einer Prise derber Erotik anspitzen.
Wie in Hofmannsthals bereits 1910 veröffentlichter Erzählung „Lucidor – Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie“, die den Kern des Librettos bildet, ist Zdenka in Gestalt der großartigen Elena Tsallagova mit seelenvoll reichem lyrischem Sopran Katalysator und Zentrum der ganzen Oper. Robert Watson gibt den Matteo mit brennend selbstzerstörerischer Leidenschaft und einem ebenso flammenden, oft wie ein Vulkan ausbrechendem Tenor, der die Grenze zum Pathologischen hörbar macht. Von ganz anderer, dunklerer Intensität im Fühlen und Singen: Russell Brown als Mandryka. Wahrlich ein Mann, der „seine eigne Lebensluft“ mit sich bringt, wie die schockverliebte und dann doch von seiner Vehemenz leicht irritierte Arabella singt. Nach Rachel Willis-Sørensen, die schon zu Beginn der Proben krankheitsbedingt absagen musste, fiel nun auch ihr Ersatz Gabriela Scherer aus. Aber seit Beginn der Woche konnte Sara Jakubiak proben, der man eine gewisse Nervosität bei den Spitzentönen anmerken konnte, ansonsten verkörperte sie mit treffsicherer Herbheit im Singen und einer großen Impulsivität im Spielen genau den Charakter Arabellas – der zwischen Hingabe, Rücksichtnahme und reifem Sich-selbst-bewusst-sein schwankt.
Donald Runnicles verfällt am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin nie der Versuchung, einen zweiten „Rosenkavalier“ zu dirigieren, sondern achtet immer darauf, einerseits den empfindsam schwelgerischen Ton und dann wieder das Halbseidene und etwas Derbe (vor allem bei den Blechbläser) zu treffen. Das fügt dem szenisch vielschichtigen Abend noch ein paar musikalische Ebenen hinzu.