Text:Alexander Dick, am 30. April 2011
Die Psychoanalyse habe den Ödipusmythos durch eine „Hintertür“ in die Gesellschaft kehren lassen, schreibt Erich Fromm. Aber ihn auch, in der Person Sigmund Freuds, zu verengt auf die sexuellen Wünsche des Sohnes gegenüber der Mutter interpretiert. „Der andere Teil des Ödipuskomplexes, die Rivalität mit dem Vater und die Feindseligkeit gegen ihn, die in dem Wunsch kulminiert, den Vater zu töten, ist ebenfalls eine gültige Beobachtung(…)“. Es ist dies einer der packendsten szenisch-musikalischen Momente in „Le Père“, Michael Jarrells „Théâtre musical nach dem Werk von Heiner Müller“: Der erwachsene Sohn besucht nach Jahren des Getrenntseins seinen todkranken Vater in der Klinik: „Wir standen, zwischen uns das Glas, und sahen uns an.“ So durchsichtig kann ein Ödipuskomplex sein.
Eine Glaswand ist auch ein wichtiges Requisit auf Adriane Westerbarkeys Bühne im Schwetzinger Schlosstheater, dessen intim-feudaler Rahmen Schauplatz dieser Festspiel-Uraufführung ist. Eine Glaswand und über die Tiefe der Bühne verteilte Vorhangstreifen aus halbtransparenten Glitzerschnüren: Metaphern von Trennung und Verbindung, aber auch des Vergessens und Verschleierns. Dabei wirkt die Erinnerung in Müllers autographischem (?) Text glasklar: Der Vater, Sozialdemokrat, wird von den Nazi-Schergen gleich nach der Machtergreifung verhaftet. Der Sohn wird dessen als kleiner Junge gewahr. Und der Konsequenzen. Seine Freunde dürfen nicht mehr mit ihm spielen, die Mutter bekommt keine Arbeit, man ist auf Almosen eines reichen Fabrikanten angewiesen. Erinnerungsfetzen reiht sich an Erinnerungsfetzen, scheinbar Banales an Schlüsselmomente. Weil der Vater gegen Hitler sei, bekomme der Sohn nur Margarine statt Butter, sagt die Großmutter dem heranwachsenden Ödipus. Und als dieser als Adoleszent das elterliche Ehebett für ein sexuelles Abenteuer nutzt, scheint der unsichtbare Übervater die Beischläferin mehr zu beeindrucken als er selbst. Wie ein Geschwür breitet sich die Schuld aus über eine verhinderte Beziehung.
Heiner Müllers Text, den der Dramatiker in sein 1979 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis bedachtes Episodenstück „Germania, Tod in Berlin“ einband, ist so stark, dass er innerhalb der szenisch-musikalischen Liaison klar dominiert. Und das trotz der eindringlichen Bildersprache, die Regisseur André Wilms für dieses fragmentarische Theater findet. Der erzählende Vater, nachhaltig-realistisch verkörpert von Gilles Privat, und sein Sohn (Nicholas Mergenthaler spielt die stumme Rolle mit glaubwürdigem Engagement) markieren einen szenischen Antagonismus für sich, in den hin und wieder, eher kulissenhaft reale Momente eingestreut werden. Ob es der zusätzlichen Ebene der an die Wände geworfenen Videobilder und Zeichen bedarf, ist fraglich. Müllers zentraler Satz „Ein toter Vater wäre vielleicht ein besserer Vater gewesen. Am besten ist ein totgeborener Vater.“, projiziert und hingeschmiert – so etwas ist im zeitgenössischen Theater mittlerweile reichlich abgenutztes ästhetisches Vehikel.
Wenn die Sprache auf die Musik erst an dieser Stelle kommt, dann vor allem, weil es ihr trotz aller handwerklichen Überzeugungskraft nicht gelingt, so etwas wie eine autonome Ebene zu schaffen. Von ein paar eindringlichen, erschütternden Momenten abgesehen, verharrt sie im Illustrativen, wie eine Tonspur, parallel zu Text und Handlung, aber zumeist Background. Dabei hat Michael Jarrell mit seiner Instrumentation für sechs Perkussionisten und drei Vokalistinnen eine klanglich aparte, variantenreiche Voraussetzung für musikalische Ebenbürtigkeit geschaffen. Doch die jeweils elektronisch unterstützten ätherischen Vokalharmonien (perfekt: Susanne Leitz-Lorey, Ramina Babickaite, Truike van der Poel) und Klangräume der ebenfalls makellos agierenden Percussions de Strasbourg wirken auf die Dauer zu unstrukturiert, homogen und erwartbar, als dass sie dem auf Französisch vorgetragenen Text mehr sein könnten als eine Art elaborierter Hörspielkulisse. Das anfängliche Moment tiefen Beeindrucktseins, etwa durch die peitschenden Schläge, die die Gefangennahme des Vaters begleiten, weicht alsbald einem Déjà-vu. Ja, so kann ein Ödipuskomplex anno 2010 durchaus klingen – so erwartbar durchsichtig.