Foto: „Wagners Traum” in Trier © Ida Zenna
Text:Vesna Mlakar, am 24. Oktober 2022
Thematisch ist er ein großes Risiko eingegangen. Künstlerisch hat er auf ganzer Linie abgeräumt: Der aus Rom stammende Choreograf Roberto Scafati – seit der Spielzeit 2018/19 Ballettchef am Theater der Römer-Stadt Trier – zog nur einen Tag nach Marco Goeckes grandios berührendem Premierenerfolg „A Wilde Story“ am Staatstheater Hannover mit seinem kleineren Ensemble an der Mosel nach. Nicht minder bildstark, inhaltlich sinnlich und szenisch eindrucksvoll setzte er „Wagners Traum“ in Szene. Ein Tanzabend, stimmig wie aus einem Guss und auf höchstem Niveau, der in einhelliger Begeisterung und zu Recht in langen stehenden Ovationen für die Interpreten und das Produktionsteam gipfelte.
Formstark zurückgenommen bilden den einzigen Blickfang zu Beginn von Scafatis neuem Abendfüller die Mäander einer später immer wieder neu raumgebend eingesetzten seidig-blauen Stoffbahn. Yoko Seyama (Bühnenbild) hat sie wie einen kurvigen Flussverlauf vor zur Rampe hin auf der sonst völlig leeren Fläche auslegen lassen. Es ist ein Raum, der sich später imposant zu einem Baldachin aufwölbt und mitten hinein führt in eine choreografisch wunderbar reich dahinfließende Auseinandersetzung mit Richard Wagner und dessen Vision eines „Theaters der Zukunft“ durch den Zusammenschluss aller Künste.
Richard Wagner als Hauptfigur
Francesco Aversano betritt von hinten die Tanzfläche. Als Verkörperung Richard Wagners ist er eine tolle Hauptfigur sowie Dreh- und Angelpunkt des gesamten Stücks. In seinem dynamischen Solo-Entrée stellt er sich dem Publikum auf das Kompakteste als junger Künstler in der Anfangsphase seines Schaffensdrangs vor. Während er in schwarzem Outfit mit roter Krawattenschleife den Weg vor zum Orchestergraben dahinschlendert, schwingt einer seiner Arme inspiriert hin und her wie der eines Dirigenten.
Live gespielt vom Philharmonischen Orchester der Stadt Trier unter Leitung von GMD Jochem Hochstenbach erklingt Musik aus Wagners „Rheingold“. Aversano geht an der Rampe breitbeinig ins Plié, schaufelt mit einem großen Port de Bras die Fülle des Klangs auf und wirbelt weiter. Scafatis wendigen und durchweg ausdrucksstarken Protagonisten zuzusehen, ist von Anfang an ein höchst ästhetisches Vergnügen.
Abstrakte Erzählweise
Hinzu kommen atmosphärisch klug verdichtete Momente aus Wagners Biografie, die beispielsweise vor wallendem Stoff und hinter plötzlich senkrecht über das Portal gespannten Bändern das bildstark in ein Lichtfeuer getauchte Abhandeln der Beteiligung des Dichterkomponisten an der Revolution von 1848 zum „Walkürenritt“ ermöglichen. So abstrakt Scafatis Erzählweise auch ist, sie verliert niemals den thematischen Fokus aus dem Blickfeld und gibt dem Szenenverlauf Tempo und Struktur.
Bald gesellen sich zu Aversano nacheinander von links und rechts je zwei Vierergruppen in identischen Kostümen. Wagner – das wird sofort deutlich – vereint als Person und Künstler viele Facetten in sich. Durch den Einsatz des Ensembles wird das formschön einfach und unmittelbar verständlich visualisiert. Wer einen zusätzlichen Leitfaden sucht, findet diesen im Programmheft, in dem die Abfolge der Szenen mitsamt der sie stets in ihrer emotionalen Qualität tragenden Wagnermusik nachzulesen ist.
Dass man letztere auf diese Weise in ihrer geradezu imaginativen Kraft einmal aus einer neuen, tänzerischen Warte kennenlernt, fällt als weiterer bemerkenswerter Gesichtspunkt ins Gewicht. So zu verfahren, hätte auch gründlich misslingen können. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Herausforderung wurde von allen rundum stimmig gemeistert – Tänzer/Tanz und Musiker/Musik harmonieren miteinander.
15 Szenen aus Wagners Leben
Das auf bloß wenige Farb- und Formakzente reduzierte Kostümprogramm von Rosa Ana Chanzá, Yoko Seyamas mobile, schlichte Ausstattung und Scafatis choreografisches Konzept unterstützen clever die schnelle Zuordnung der einzelnen Figuren: im Mittelpunkt natürlich Wagners Frauen (Minna, Mathilde, Cosima – für jede hat Scafati ein besonderes Liebesduett kreiert), die befreundeten Paare (Wesendoncks, von Bülows), die Mäzene (Ludwig II.) und Künstlerkollegen (Liszt, Nietzsche). Eine weitere wichtige Rolle spielen die Gruppen. Sie prägen eine Sequenz mal als Zwangsvollstrecker-Quintett mit Wackelköpfen und ausgestreckt fordernden Händen oder sie symbolisieren die bürgerliche Moral. In insgesamt 15 Szenen ergänzen sie inhaltlich gezielt die maßgebenden Personen aus Wagners Umfeld. Bis zur Pause erleben wir wiederholt Wagners erste Frau Minna Planer. Die beiden lernen sich zum Vorspiel aus „Lohengrin“ kennen und lieben. Minnas Tod beschließt vor der Pause den ersten Akt von „Wagners Traum“ – länger vorbereitet und immer mehr zu einer Randfigur degradiert durch den eindrücklichen Bewegungsduktus aus kränklicher Gebrochenheit für deren anfangs so glücksstrahlende und tatkräftige Interpretin Morgan Perez.
Auf Ludwig II. trifft Wagner im zweiten Teil des Abends. Pläne für ein Festspielhaus werden geschmiedet. Von der Decke hängt ein großer Stein aus Pappmasche. Kleinere, die in Netzen hängen, kommen hinzu. Die fortan surreale Komponente der Szenenbilder könnte von René Magritte stammen. Untermalt von „Isoldes Liebestod“ formuliert Aversano körperlich Wagners Rastlosigkeit und Zerrissenheit aus. Die Beziehung zu Nietzsche (Giorgio Strano) zerbricht.
Am Boden unter dem hängenden Steinwald rückt Chiara Bonciani als Cosima mehr und mehr ins Zentrum der Handlung. Die uneheliche Tochter von Franz Liszt und Bülows Gemahlin wird schließlich Wagners zweite Ehefrau. Dass sie nach Wagners Ableben dessen künstlerischen Nachlass über Jahrzehnte federführend verwaltet hat, deuten Scafati und sein Team mutig absurd im Schlussbild zu „Siegfrieds Trauermarsch“ an: Da kniet die junge Frau neben ihrem unter der blauen Stoffbahn begrabenen Mann. Knapp darüber schwebt der riesige Grundstein des Bayreuther Festspielhauses, der sich herabgesenkt hat. Das Licht ist nur mehr auf Cosima und den Stein gerichtet. Und die Tänzer, von denen das Tableau steif gesäumt wird, verlieren sich im Dunkel. Symbole für eine Anspruchshaltung zwischen Realität und Fantasie, die so schnell niemand vergisst.