Giada Zanotti als Marylin

Zwischen Mythos und Identitätsverlust

Jörg Mannes: Marilyn

Theater:Staatsoper Hannover, Premiere:05.05.2018 (UA)

Jörg Mannes choreographiert „Marilyn“ in Hannover

Den Aufstieg und Fall einer Marilyn Monroe zu tanzen, verlangt Allerlei. Es bedeutet, in die fremde Haut zu schlüpfen und sich emotional in eine Filmikone hineinzudenken, die sich zielstrebig-geltungsbedürftig zur glamourös-verführerischen Kunstfigur stilisierte – durch Ummodelung des kompletten eigenen Ichs. Realität und Erfindung verschwimmen in Monroes kurzem Leben. Es war von ihrer Suche nach Perfektion und dem Hunger nach Liebe, Erfolg und Anerkennung geprägt. Giada Zanotti scheint die Auftritte als Diva in aufreizenden Gewändern und blonder Perücke (Kostüme: Alexandra Pitz) tänzerisch wie darstellerisch voll auszukosten. In Jörg Mannes temporeichem choreografischen Aperçu „Marilyn“ ist sie die aufstrebende, sich manchmal fast maskulin-dominant ihrer Wirkung auf Männer bewusste Frau. Letztlich aber geht sie am Verlust der eigenen Identität zu Grunde.

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Auf der Bühne bleibt Zanottis Marilyn nie sehr lange allein. Immer wieder taucht Norma Jeane Baker – ihr junges, noch unverbogenes Alter Ego – auf. Catherine Franco verkörpert die Ehrgeizige, die es unbedingt zu etwas bringen will, mit brünettem Pferdeschwanz und der aufgeweckten Ausstrahlung einer heranwachsenden Schönheit. In einem Korridor aus gegenläufigen, sich kräuselnden und schließlich stark wellenden Streifen (Projektionen: Philipp Contaq-Lada) liefern sich beide Tänzerinnen eine Art Duell. Am Ende hat Marilyn ihre Metamorphose vollzogen. Mit dem Fuß drückt sie Jeane grob zu Boden. Im zweiten Teil folgt die Revanche: Alkohol und psychische Probleme haben Marilyns Wahrnehmungsschärfe getrübt. In einer eindrücklichen, technisch raffiniert gelösten Spiegelszene sieht die Blondine sich gleich mehrfach und Aug‘ in Aug‘ mit dem Erscheinungsbild ihrer Vergangenheit konfrontiert. Zweifellos ein Höhepunkt des im Flair der 1950er Jahre unterhaltsam-kompakten Abends.

Männer bestimmen des Weiteren Marilyns Werdegang. Kumpelhaft umschwärmt sie das Pack der Showbusiness-Kollegen Frank Sinatra (Conal Francis-Martin), Sammy Davis Jr. (Giovanni Visone) und Dean Martin (Davide Sioni). Aggressiver in punkto seiner Besitzansprüche tritt Denis Piza in der Rolle des Baseballstars JoeDiMaggio auf. Die Beziehung zerbricht an Marilyns zunehmender Berühmtheit. Als Kulisse für die Trennung ragen ihre Beine in Form eines riesigen Pappaufstellers bis zur Decke.

Die zärtlicher angelegte Amour zum Schriftsteller Arthur Miller (in seiner Hingabe überaus elegant: Orazio Di Bella) nimmt in New Yorks imposanten Wolkenkratzerschluchten quer über einen Steg aus Filmequipment-Boxen ihren Lauf auf. Je höher hinauf die Kamera steigt, desto mehr wird auch der Zuschauer vom Schwindelgefühl dieser Liebe ergriffen. Zum Schluss – und der gerät Jörg Mannes in seiner Abruptheit leider fast zu kurz – wetteifern in einem Trio die Kennedy-Brüder John (Conal Francis-Martin) und Bobby (Davide Sioni) um Monroes Gunst. Hinter einer schmalen, halbgeöffneten und überdimensional hohen Tür bewegen sich im Wind die weiß-roten Streifen der amerikanischen Flagge. 

Was Marilyn Monroe mit ihrem Techtelmechtel im Weißen Haus angerichtet hat, lässt Hannovers Ballettchef in einem Solo zum dahingeraunten Geburtstagsständchen „Happy Birthday, Mr. Präsident“ kulminieren. Das aber tanzt Giada Zanotti nicht. Mannes wechselt unvermittelt die Perspektive. Uns zeigt das verletzte Innenleben der brüskierten First Lady. Clever! Im Lichtschein des Türschlitzes ringt Jackie in einem stillen Moment abseits der Öffentlichkeit um Fassung. Bewegungstechnisch wunderbar gebrochen dargeboten von Lilit Hakobyan. Man hatte sie schon zuvor live in den Mitschnitt einer Rede JFKs hineinkopiert und mittels Bluescreen-Trick als dessen Gattin eingeführt. Im Schlepptau: eine rücksichtlos zum Präsidenten der Vereinigten Staaten tapsende Marilyn.

Ihren Part gestaltet Giada Zanotti keineswegs sinnlich-zerbrechlich. Die Füße bisweilen weit auseinander und im Plié, gibt sie das anfangs im innigen Duett mit Fotografen über Filmkisten hinweg tingelnde Leinwandsternchen eher forsch und kämpferisch. Sie stellt Marilyns Meisterschaft im Verdrängen heraus, ihre radikale Abwendung vom adretten Mädchenimage. Auffallen lautet die Devise auf dem unumkehrbar-fatalen „Ich-will-hoch-hinaus“-Trip der Monroe hin zum Sex-Vamp mit diversen Affären, Drang zu Überkontrolle und quälenden psychotischen Zuständen.

Für die Italienerin aus dem Ensemble des Balletts der Staatsoper Hannover bedeutete die Herausforderung zugleich, erstmals eine Titelrolle zu meistern – und zwar eine, die sowohl den zahlreichen Klischee-Bildern als auch der prominenten ambivalenten Persönlichkeit gerecht werden soll. Zwei Erzählschienen, die sich untrennbar ineinander verwoben durch Mannes klar strukturierten Handlungsablauf ziehen. Dem roten Faden zu folgen, fällt leicht.

Zudem rechtfertigen die verschiedenen Ebenen der Narration auch die Integration problematischer Sequenzen. So lässt der Choreograf seine Interpretin in schrillem Pink erst die Filmshownummer „Diamonds are a Girl’s Best Friend“ zu Playback nachempfinden. Später schenkt er dem Publikum einen weiteren revuehaften Wiedererkennungscoup: Monroes hochfliegenden Plisseefaltenrock – zum Glück garniert mit einem parodistischen Seitenhieb. Gleich vier Damen rekeln sich auf den mit Rollen versehenen Kisten. Als sich dann noch der Zwischenvorhang hebt, sind Marilyns laszive Abbilder plötzlich überall.

Haben wir es mit einer Anspielung auf Doubles, Nachahmer oder gar Followers zu tun? Oder liegt in diesem Gruppentableau der Hinweis auf das Entgleiten absoluter Kontrolle über die Vermarktung des selbstgeschaffenen Geschöpfs versteckt? Ganz gleich, Mannes Tanzabend zeichnet der Fokus auf Monroes Mitschuld an ihrem frühzeitigen Untergang aus. Seine Premiere will weder alte Fragen beantworten noch neue aufwerfen. Ein Schlaglicht auf Marilyns sich zuspitzendes Psychodrama zu werfen, darum geht es. Alias Jeanes reale Hollywoodgeschichte, deren Eckpunkte und wichtigste Nebendarsteller man eigentlich kennt.

Den Zuschauer dennoch durchweg bei Laune und in Spannung halten die atmosphärische-sinnige Bühnenausgestaltung (Florian Parbs) und gelungene Zusammenstellung der Musik (John Adams, Marilyn Monroe, Frank Sinatra, Nine Inch Nails u.a.). Weil letztere vom Band kommt, wurde die Bühnenfläche bis über den Orchestergraben vorgezogen. Einige der 23 inhaltlich lediglich durch Stichworte („Beach“, „Studio“, „Divas“, „Egoists“) betitelten Bilder spielen mit der Tiefe. Andere profitieren in ihrer Schlagkraft von der Rampennähe.

„Housekeeper“ ist so ein Fall. Thematisiert wird darin die Entdeckung von Marilyns Tod. Mit ihm beginnt und endet Mannes‘ eineinhalbstündiges Stücks. Giada Zanotti muss wenig tun. Ihr lebloser, von Satinstoff umspülter Körper schmückt ein großes Bettgeviert. Drumherum sorgt die fabelhafte Lauren Anne Murray für introvertierte Bewegungsexplosionen. Im Blümchenkleid mit Strickjacke hält man sie auf Anhieb für Marilyn als Kind. Ihre Rastlosigkeit, die Grimassen und das Nägelkauen – alles würde für die zu Pflegeeltern und ins Waisenhaus Abgeschobene passen. Dabei formulieren Murrays drastische Gesten und Schritte pures Entsetzen. Grandios.