Foto: Maja Beckmann, Steven Sowah, Sasha Melroch, Wiebke Mollenhauer und Benjamin Lille in "Gier" am Schauspielhaus Zürich © Orpheas Emirzas
Text:Bettina Schulte, am 5. März 2023
Wie düstere Kometen fielen die Stücke von Sarah Kane Ende der 1990er-Jahre aus einem sehr schwarzen Himmel auf die Bühnen ihres Heimatlands England, von wo sie dank Peter Zadek ins deutschsprachige Theater schwappten und mit Begeisterung aufgenommen wurden. Kane schwamm – zu Unrecht – in der Bugwelle des neuen britschen Realismus, der mit In-Yer-Face-Theater sein Schlagwort fand. Das ist nun schon einige Jahre her: Sarah Kane verstummte nach fünf sprachmächtigen Dramen – im Oktober 1998 nahm sie sich mit schweren Depressionen das Leben.
Der Kane-Hype ebbte ab so schnell wie er gekommen war. Umso überraschender, dass sich ausgerechnet das Schauspielhaus Zürich, das mit Diversitätsdebatten auf sich aufmerksam und noch aus den blutrünstigen „Nibelungen“ ein friedfertiges Narrativ gemacht hat, sich nun mit „Gier“ auseinandersetzt – einer wenig friedfertigen, ziemlich hoffnungslosen Experimentieranordnung, in der vier nur mit einem Buchstaben gekennzeichnete Figuren in einem ortlosen Raum zwischen hochfliegender romantischer Sehnsucht und abgrundtiefer Verzweiflung zerrissen sind. Ja, auch die Erinnerung an gewalttätige Szenen flammt auf, wie sich ein „ältlicher Großvater“ an dem Kind auf dem Beifahrersitz vergeht. Zu sehen ist davon nichts: Denn Kane arbeitet ausschließlich mit Sprache, darin ist sie Beckett nah. Gleichwohl steht im Foyer des Zürcher Pfauen ein Schild mit einer Triggerwarnung und der Empfehlung, die Produktion nicht unter 18 Jahren anzuschauen – angesichts von frei zugänglichen Gewaltszenen im Netz eher eine scheinheilige Rücksichtnahme.
Die Schere klafft weiter auf
Und eine überflüssige dazu: Regisseur Christopher Rüping und seine Schauspieler tun alles, um Kanes Text, in dem es hauptsächlich um das von Macht und Abhängigkeit zerstörte Verlangen nach Liebe und Nähe geht, zu entschärfen. Um die Zuschauenden nicht unmittelbar mit diesem schwarzen Oratorium zu konfrontieren, haben sich Rüping und sein Team eine fünfte (stumme) Figur ausgedacht: Wiebke Mollenhauers Gesicht wird von Webcams auf eine riesige Leinwand projiziert. Man kann, man soll in ihm lesen. Es spiegelt ihre Reaktionen auf den von Benjamin Lillie, Maja Beckmann, Sasha Melroch und Steven Sowah in weißen, mit Pastellfarben kombinierten Schlabbergewändern (Kostüme: Lene Schwind) gesprochenen Text, der laut einer Verfügung der Autorin nicht verändert werden darf.
Mollenhauers Gesicht, in das sie ihre ganze Schauspielkunst legen muss, bleibt eine Zeitlang unbewegt, dann fließen hilflose Tränen, es zuckt aber auch amüsiert auf, lacht mitunter herzlich – die Komik, die in Kanes Text auch steckt, wird stark herausgearbeitet. Das Gesicht grimmassiert, formt die Lippen zum lautlosen Schrei. Bis schließlich tatsächlich etwas herauskommt aus ihrer Kehle: der Song „Toxic“ von Britney Spears. Nachdem das Ensemble „You are so beautiful“ und „Forever Young“ intoniert hat – mit Unterstützung des Musikers Christoph Hart an den Reglern und eines fabelhaften Streichtrios (Jonathan Heck, Polina Niederhauser, Coe Strouken).
Britney Spears! – Das hat Sarah Kane, die ein Faible für Joy Division hatte, nicht verdient. Und es ist fast kein Wunder, dass der überwiegend mit jungem Publikum gefüllte Saal danach immer wieder in Heiterkeit ausbricht: Die Schere zwischen Kanes Sätzen und dem zunehmend theatral belebten Setting (es kommen – warum nur? – auch noch Pappmasken ins Spiel) klafft im Lauf des Abends immer weiter auf. Und der Höhepunkt kommt noch: Man sieht Wiebke Mollenhauer live per Video durch die Zürcher Innenstadt dem See zustreben, mit einer fröhlichen Wollmütze auf dem Kopf. Angekommen am dunklen Gewässer, entledigt sie sich ihrer dick wattierten Jacke. Dann steht sie da im hellblauen Badeanzug. Sie wird doch nicht? Doch, sie wird. Dreht ein paar Runden entspannt wie ein Fisch im eiskalten Wasser. Geübt hat sie das mit einem Coach. Krebsrot sind ihre Beine beim überbordenden Jubel der Fangemeinde. Sarah Kane: War da was?