Foto: Das Tanz-Ensemble Gießen in "Where are we (at)" © Lena Bils
Text:Melanie Suchy, am 14. Januar 2023
Der neue Leiter der Sparte Tanz am Stadttheater Gießen zeigt sein erstes eigenes Stück mit dem Ensemble: „What we are (at)“. Es dreht sich um Menschen in der Gegenwart, die ihre Zukunft vermasseln. Es dreht sich überhaupt viel bei dieser Aufführung, die ihre Botschaft in Spiel verwandelt; sich manchmal verrätselt und zerkrümelt, aber auch mitzieht, in Ernst und Spaß, ohne sich anzubiedern. Constantin Hochkeppel, Anfang Dreißig, der vom Bewegungstheater beziehungsweise physical theatre kommt, ist dabei, sein eigenes Genre zu erfinden.
Es ist das Licht: Statt dass es im Zuschauerraum dunkel wird vor dem Anfang, wird es fahl, kühl. Ein Spot leuchtet an die Saaldecke und die aufwendig verschlungene große Lampe dort. Noch haben wir ein Dach über den Köpfen. Daran denkt man im Theater normalerweise nicht: an die Vergänglichkeit des Baus. Aber am Ende von „Where we are (at)“ skizziert die kleine Gemeinschaft der sieben Tänzerinnen und Tänzer mit Blicken und Fragen das Gedankenbild einer Ruine. Genau hier, wo wir sind, „where we are“. Das ist der stärkste Moment des 80 Minuten langen Stückes. Er macht frösteln. Die Botschaft kennen wir alle, aber handeln noch nicht genügend ihrer Dringlichkeit entsprechend: den Planeten vor der Klimakatastrophe zu retten. Ist noch Zeit?
„Time, time, time“, murmelt jemand inmitten des Publikums, „Zeit, Zeit“. Der Tänzer Jeff Pham erhebt sich, steigt mühelos über Sitze langsam nach vorn und spricht ernst, nicht anklagend. Eine Klage, fast wie ein Gesang mit einer Art biblischen Poesie. Es ist das Manifest von Extinction Rebellion. Die deutschen Übersetzungen, auch von späteren Texten im Stück, stehen in Obertiteln und auf Monitoren: „Die Zeit ist gebrochen und krumm, und die Jahreszeiten sind aus dem Gleichgewicht, so dass selbst die Pflanzen verwirrt sind. (…) Früher hatte jedes Ding seine Zeit, eine Zeit, geboren zu werden, eine Zeit, Kind zu sein (…), aber die Jungen heute stehen vor einer Welt aus Chaos. Es geht um Leben und Tod. Alles hängt mit allem zusammen. (…) Die Sterne stellen sich auf zur Rebellion.“
Die Tänzer sind keine Sterne. Aber sie zeigen von Anfang an, wie unscharf die Grenze zwischen „Natur“-Sein und Mensch-Sein aussehen kann. Natürlich, auf dem Theater gehören Verwandlungen seit Ewigkeiten dazu, und gerade der Tanz gebiert gern die seltsamsten Kreaturen. Hochkeppel, assistiert von Niv Melamed, präsentiert das ohne Überdeutlichkeit, ohne Klischees. Das ehrt ihn; doch manche Mensch-Tanzaktionen, Bodenchoreographien, Kreistänzchen oder das Partnerlüpfen und -anlehnen, wirken ein wenig beliebig. Oder sind einfach als Geschäftigkeit gemeint, Ruhelosigkeit, Vergnügungslust, Zeitverbringen. Abgewechselt von Knutschmomenten, Sockenausziehen und -werfen, Rangeln, Rumstehen, Posieren im Spagat, Tischrutsche-Spielen. Oder dem „Was wäre, wenn-Spiel“ mit Fragerufen und tumbem Jubel bis hin zu „was wäre, wenn das alles Sinn ergäbe“? Haha, dieses Chaos?
„We are nature and nature is us”
Zu Beginn krauchen die von Sophie Lichtenberg freundliches Braun-Beige-Grau gekleideten Tänzer noch am Boden, häufeln sich aufeinander, jemand versinkt in ihrem Berg, jemand steigt von dort auf, oder Füße, Köpfe, Arme ragen hoch. Ein Auf und Ab. Ellbogen werden zu Ecken oder Stacheln. Die Wesen wenden sich, verdrehen sich, schlängeln Arme um Köpfe. Mal verlangsamt, mal schnell wie Ausschläge. Es flutscht und es zieht sich. Als laufe ein Film über Gewächse im Zeitraffer ab. Organisch, doch ohne die Schönheit des Allmählichen. Dies ist der Wald, von dem die Tänzer manchmal sprechen oder das eigene friedvolle „Natur-Sein“, das sie zu vergessen scheinen, wenn sie nach üppigem Mahl am überladenen Tisch, wunderbar theatral aufgefahren in Zeitlupe, lauter Müll hinterlassen.
Der Raum, in dem das Grüppchen herumlebt, sieht erst aus wie eine große Gummizelle, eine Kreation von Nicolas Rauch, aufregend surreal mit wechselndem Licht bestrichen: hell, dunkel, von Gelb bis Rot, Pink, Violett. Wie aus Materialermüdung klappen unerwartet Wandrechtecke herunter, so entstehen Fenster. Aus dem ersten zieht Maja Mirek ein Seil wie eine Luftwurzel und zerrt dran, stemmt sich, biegt sich nach hinten, als hänge ihr Leben an ihr. An was hängen die hier alle?
Nichts hält, nichts ist stabil. Das sagt, neben der ebenfalls großartigen vorüberziehenden brummenden, tickernden, fipselnden oder technohaft rumsenden Soundlandschaft von Kann, vor allem der Raum selber. Er dreht sich plötzlich und zeigt seine hölzernen Rückseiten, sein Gebautsein. Er dreht sich viel und immer schneller, mit ihm, in ihm die Bewohnerinnen und Bewohner, die sich hinwerfen, die laufen, auch mal taumeln oder zittern oder abwarten.
Die Zeit rennt. Was ist das hier? So lautet auch die allerletzte Frage dieser kleinen Menschheit von der Bühne herunter, mit suchenden, staunenden Blicken in den Saal. „So viele Sitze hier“. Jetzt ohne Dach, was das wohl früher war? „Ein besonderer Ort.“ – „Die haben sich hier versteckt.“ – Es fehle etwas – „Dieser Ort hat seine Bedeutung verloren – wie die Menschen.“ Doch Hochkeppel hängt noch ein leises Ende mit Erde dran, eine kleine undramatische Hoffnungsgeste.