Reibung zwischen den Zeiten
Ein starker Anfang, der Neumeier schon 1978 die Möglichkeit eröffnet hat, nicht nur das Märchen neu zu deuten, sondern gleichzeitig auch einem choreografischen Erbe zu huldigen, das auf unterschiedlichste Weise seit der Uraufführung 1890 in St. Petersburg immer wieder nutzbar gemacht worden ist. Selbstverständlich zitiert ein so geschichtsbewusster Choreograf wie John Neumeier aus dem Meisterwerk Marius Petipas. Er tut das, indem er ihm einen zeitlichen Rahmen vorgibt, den er selber setzt. Oder anders gesagt: indem er Désiré wie ein Zeitreisender in die Entstehungszeit des Balletts hineinkatapultiert und das „Dornröschen“-Märchen wie ein Zaungast miterleben lässt – mittendrin und doch machtlos, weil er bis zum erlösenden Kuss für alle anderen einer der „Unsichtbaren“ bleibt, mit denen sich Neumeier in der kommenden, offenbar seiner letzten Spielzeit beschäftigen will.
Das schafft natürlich in mehrfacher Hinsicht eine reizvolle Reibung, weil Neumeier sein gegenwärtiges Bewegungsidiom immer wieder mit der Nobelklassik eines Petipa konfrontiert und so Tiefenschichten des Märchens sichtbar machen kann, die einem sonst womöglich verborgen blieben. Am wenigsten überzeugt Neumeier noch bei den Rahmenbedingungen des Balletts, wenn er ein Heute arg klischeehaft durch eine Horde bierseliger Saufkumpanen behauptet. Auch das Nebeneinander von Handlung und Interpretation ist nicht immer schlüssig. Aber sobald er sich ganz konkret auf die Geschichte einlässt, gelingen Neumeier perspektivenreiche, pointierte Momente, die blitzartig das Geschehen erhellen können. Auf wahrhaft berührende Weise geschieht das beispielsweise in der siebten Szene, wenn Désiré die schlafende Schöne endlich küsst und ihm Dornröschen nicht mit einem Paukenschlag zur Frau erwacht. Sie braucht ihre Zeit, um ihre Gefühlslage zu klären. Erst als sie mit sich im Reinen ist und Désiré aus eigenem Antrieb küsst, wird auch das Drumherum wieder lebendig. Ida Praetorius, vom Königlich Dänischen Ballett ins Hamburg Ballett übergewechselt, macht vor allem die Bangigkeit ihres Herzens eindrucksvoll zum Erlebnis, auch weil ihr vorerst die Strahlkraft einer Aurora noch fehlt.
Nach 43 Jahren
Was wirklich neu ist an der Neufassung, lässt sich nicht auf einen Blick fassen – außer, dass sie als Zweiakter etwas kürzer geworden ist. Neu sind natürlich die Tänzer und Tänzerinnen: Niemand von ihnen war 1978 dabei – nicht einmal Hélène Bouchet, die sich nun mit der Fliederfee, pardon: als Rose hauchzart und voller Hingabe nach zwanzig Jahren aus Hamburg verabschiedet. Schon gar nicht Alexandr Tusch, der sich als kleiner Prinz zweifellos in den Folgevorstellungen zum Publikumsmagneten entwickeln wird. Nicht Matias Oberlin als körperhafter Dorn oder Christopher Evans’ Hoftanzmeister Catalabutte, der sich beim Hochzeitstanz auch noch in den Blauen Vogel verwandelt.
Nicht so ganz neu sind die meisten Dekors und Kostüme von Jürgen Rose – und das ist gut so: Allein den achtzig Meter langen Heckenschleier, der während der Panoramaszene ganz langsam am Bühnenportal vorbeizieht, muss man einfach mal gesehen haben. Ebenso die akribisch wie fantasievoll ausgearbeiteten Details, die sich der Bühnenbildner vor so vielen Jahren hat einfallen lassen – nicht zuletzt auch im Vergleich mit seiner ebenso opulenten, aber ganz anderen „Dornröschen“-Ausstattung, zu der 1987 Márcia Haydée in Stuttgart inspirierte. Seltsam, dass ausgerechnet ihr Name fehlt im sonst so lesenswerten Programmbuch.
Apropos Stuttgart: Wie in „Brouillards“ von John Cranko findet sich am Ende der Junge neben einer schlafenden Schönheit wieder. Während bei Crank das Mädchen nach dem Erwachen den Jungen einfach sitzen lässt, erspart Neumeier dem Protagonisten dieses Schicksal und lässt die Geschichte offen.