War Hölderlin nun Genie oder doch ein Wahnsinniger? Von Diskussionen mit seiner Mutter über seine Weigerung, Theologe zu werden (Frühling) bis hin zur unglücklichen Affäre mit Susette Gontard (Sommer) mündend im Realitätsverlust, der in der Psychiatrie mit brutalen Methoden wie dem Aderlass behandelt wird (Herbst), bekommt der Zuschauer immer wieder neue Eindrücke, um diese Frage für sich selbst neu zu bewerten. Am Ende (Winter) wird Hölderlin bei Schreiner Ernst Zimmer und seiner Tochter Lotte, die sich auch nicht sicher ist, ob der alte Dichter nun genial oder verrückt ist, liebevoll im Turm betreut.
Spannendes Setting
Thorsten Weckherlins Inszenierung kommt mit wenigen und einfachen Mitteln wunderbar aus. Im gesamten Stück befindet sich das kleine Ensemble (inklusive Orchester) in einer Nervenanstalt. Alle tragen weiße Gewänder, der Boden ist über und über mit Zetteln aus Hölderlins Schreibwerkstatt ausgekleidet.
Hölderlin, vom ersten bis zum letzten Ton unglaublich intensiv dargestellt von Johannes Fritsche, sieht in seinen Mitpatienten je nach Szene mal die eigene Mutter, mal die kleine Lotte Zimmer, die im nächsten Moment in die Rolle seiner Geliebten Susette (starke Stimme von Johanna Pommranz) schlüpft. Dann erkennt er Goethe, der auch den Psychiater, Ernst Zimmer oder Hölderlins Freund Isaac von Sinclair (extrem wandlungsfähig: Patrik Hornák) mimt. Den Ekelmoment hätte es allerdings nicht gebraucht, als dieser mit Hölderlin über sein politisches Engagement in der französischen Revolution diskutiert und mit einem menschlichen Kopf, aus dem das Kunstblut tropft und dessen linkes Auge Hölderlin schließlich verschlingt, auf die Bühne kommt.
Ein szenischer und gleichzeitig urkomischer Höhepunkt ist hingegen der Auftritt Goethes, der sich mit Boxhandschuhen, auf denen „Faust“ steht, und einer überbordenden, barocken Perücke neben Hölderlin aufplustert und darüber monologisiert, dass Hölderlins Gedichte zu lang seien.
Lautmalerische Musik
Markus Hörings Komposition unterstützt überwiegend die Geschichte, oft geradezu lautmalerisch, wenn große Trommel, Pauke und Tremoli in den Streichern spannungsgeladene Momente ankündigen oder Goethes fast schon Papageno-artiger Auftritt von leichter Hofmusik begleitet wird. Schade, dass das Orchester „La Banda Modern“ durchgehend zu laut spielt und die Sängerinnen und Sänger so immer wieder zuzudecken droht.
Als Markenzeichen von Libretto und Komposition stellt sich schnell eine gewisse Stringenz heraus: So sind kaum fiktive Elemente in der Geschichte enthalten. Auch beim Text hielt sich Höring fast durchgehend an Hölderlins Skripten, was eine große Authentizität des Werkes ausmacht. Musikalisch gelingen dem Komponisten immer wieder raffinierte Zitate aus Hölderlins Zeit oder passend zur Szene – wie etwa bei Sinclairs Auftritt – ein Auszug aus der französischen Hymne. Zum Szenenwechsel taucht außerdem der immer gleiche Choral auf, was der Kammeroper eine klare Struktur verleiht.
Markus Höring und Thorsten Weckherlin ist mit „Im Thurm“ ein kurzweiliger Einblick in das Leben von Tübingens berühmten Dichter gelungen und eine Kammeroper, die mit starken Bildern und nicht zuletzt sehr abwechslungsreicher musikalischer Sprache zu überzeugen weiß. Die verschiedenen Facetten von Hölderlins Lebens zeigen zudem, dass es bei dem Dichter keine Oder-Frage zwischen Genie und Wahnsinn geben muss, sondern ganz klar auch beides gleichsam der Fall gewesen sein könnte.