Foto: Ensembleszene aus „Sibirien“ bei den Bregenzer Festspielen. Links vorne im blauen Rock Ambur Braid als Stephana © Karl Forster
Text:Georg Rudiger, am 22. Juli 2022
Sie haben mit Luigi Illica nicht nur den gleichen Librettisten. Auch sonst gibt es zwischen den beiden großen Opernproduktionen der diesjährigen Bregenzer Festspiele – Giacomo Puccinis „Madame Butterfly“ auf der Seebühne und Umberto Giordanos „Sibirien“ im Festspielhaus – einige Gemeinsamkeiten. Giordanos Oper wurde am 19. Dezember 1903 an der Mailänder Scala anstelle von Puccinis „Madame Butterfly“ aufgeführt, weil der Komponist wegen eines Autounfalls in Verzug war. Beide Werke integrieren folkloristische Klänge aus den Ländern, in denen die Handlung spielt – hier Japan, dort Russland.
Russische Variationen
„Sibirien“ beginnt gleich mit einem russisch-orthodoxen Chor, der aber seltsam angeklebt ans folgende musikalische Geschehen wirkt (ausbalanciert: der Prager Philharmonische Chor). Wie überhaupt die häufige Einbindung von russischen Klängen – auch eine traditionelle russische Tanzmusikkapelle und das „Lied der Wolgaschlepper“ ist in verschiedenen Variationen zu hören – mit dem übrigen musikalischen Kontext, der in den Gesangspartien durch die Kantabilität und das Pathos der italienischen Oper geprägt ist, wenig zu tun hat. Klangliche Schärfen, dynamische Extreme und schroffe Akkordschichtungen finden sich hin und wieder im Orchesterpart wie am Ende des in einem Straflager in Sibirien spielenden dritten Akts, wenn kleine Trommel und scharfes Blech für Eskalation sorgen. Die Wiener Symphoniker erzielen unter der souveränen Leitung von Valentin Uryupin einen ganz plastischen Klang, agieren rhythmisch genau und flexibel. Dass die Musik durch die häufigen Stilwechsel und die mitunter langatmigen Ensembles keinen wirklichen Sog entwickelt, ist nicht der Interpretation anzulasten.
Sozialer Abstieg, moralischer Aufstieg
Auch dramaturgisch ist die Geschichte um die Edelprostituierte Stephana, ihren Ex-Zuhälter Gleby und ihre neue große Liebe Vassili, dem sie ins Straflager nach Sibirien folgt, problematisch und auch ein wenig unglaubwürdig. Die Verbindung von sozialem Abstieg und moralischem Aufstieg Stephanas wird in der Oper nur undifferenziert erzählt. Für Regisseur Vasily Barkhatov, wie Dirigent Uryupin Russe und aufgrund ihrer demokratischen Gesinnung für Intendantin Elisabeth Sobotka unverdächtig, steht „Sibirien“ zwischen Leos Janáčeks „Ein Totenhaus“ und Giuseppe Verdis „La Traviata“. Um die Geschichte zu aktualisieren, hat Barkhatov eine Rahmengeschichte erfunden, die in Schwarz-Weiß-Videos (Pavel Kapinos, Sergey Ivanov, Christian Borchers), aber auch mit einer Bühnenfigur erzählt wird (Kostüme: Nicole von Graevenitz). Clarry Bartha ist diese ältere italienische Dame mit russischen Wurzeln, die sich auf eine Reise in die Vergangenheit begibt, um in Archiven und Originalschauplätzen etwas über das Leben ihrer Eltern Stephana und Vassili zu erfahren. In den Videos funktioniert das gut, auf der Bühne weniger. Am Ende werden die Geschichten zusammengeführt und die Tochter legt sich neben ihre erschossene Mutter.
Christian Schmidt hat für „Sibirien“ eine wandelbare Bühne gebaut, die zunächst den feudalen Salon von Fürst Alexis (Omer Kobiljak) zeigt, sich aber mit wenigen Mitteln auch in ein Archiv oder eine weite sibirische Ebene verwandeln kann. Ambur Braid ist als Stephana von Beginn an eine starke Frau, die sich in der Männerwelt behauptet. Mit ihrem dunkel timbrierten, auch im Dramatischen runden und farbenreichen Sopran wird sie zur Hauptfigur des Abends. Alexander Mikhailov kann ihr als zum Knödeln neigender Vassili nicht das Wasser reichen. Auch darstellerisch bleibt der russische Tenor blass. Scott Hendricks gibt Gleby als echten Kotzbrocken, der, ebenfalls nach Sibirien verbannt, dort nochmals Stephana bedrängt, aber den Kürzeren zieht und am Ende in der Deutung der Regie auch noch verrückt wird. Besonders im letzten Akt gelingt Barkhatov szenisch eine Verdichtung, wenn er die Bühne in zwei Teile teilt und Stephana zwischen dem Arbeitslager und ihrem alten feudalen Leben hin- und herswitchen kann. Sie entscheidet sich für Sibirien – und damit für ihren Tod. Wie bei Madame Butterfly hat auch ihr Lebensentwurf keine Zukunft.
Weitere Vorstellungen in Bregenz am 24. Juli und 1. August. Die Inszenierung ist eine Koproduktion mit der Oper Bonn und wird ab 12. März 2023 dort zu sehen sein.