Sozialer Abstieg, moralischer Aufstieg
Auch dramaturgisch ist die Geschichte um die Edelprostituierte Stephana, ihren Ex-Zuhälter Gleby und ihre neue große Liebe Vassili, dem sie ins Straflager nach Sibirien folgt, problematisch und auch ein wenig unglaubwürdig. Die Verbindung von sozialem Abstieg und moralischem Aufstieg Stephanas wird in der Oper nur undifferenziert erzählt. Für Regisseur Vasily Barkhatov, wie Dirigent Uryupin Russe und aufgrund ihrer demokratischen Gesinnung für Intendantin Elisabeth Sobotka unverdächtig, steht „Sibirien“ zwischen Leos Janáčeks „Ein Totenhaus“ und Giuseppe Verdis „La Traviata“. Um die Geschichte zu aktualisieren, hat Barkhatov eine Rahmengeschichte erfunden, die in Schwarz-Weiß-Videos (Pavel Kapinos, Sergey Ivanov, Christian Borchers), aber auch mit einer Bühnenfigur erzählt wird (Kostüme: Nicole von Graevenitz). Clarry Bartha ist diese ältere italienische Dame mit russischen Wurzeln, die sich auf eine Reise in die Vergangenheit begibt, um in Archiven und Originalschauplätzen etwas über das Leben ihrer Eltern Stephana und Vassili zu erfahren. In den Videos funktioniert das gut, auf der Bühne weniger. Am Ende werden die Geschichten zusammengeführt und die Tochter legt sich neben ihre erschossene Mutter.
Christian Schmidt hat für „Sibirien“ eine wandelbare Bühne gebaut, die zunächst den feudalen Salon von Fürst Alexis (Omer Kobiljak) zeigt, sich aber mit wenigen Mitteln auch in ein Archiv oder eine weite sibirische Ebene verwandeln kann. Ambur Braid ist als Stephana von Beginn an eine starke Frau, die sich in der Männerwelt behauptet. Mit ihrem dunkel timbrierten, auch im Dramatischen runden und farbenreichen Sopran wird sie zur Hauptfigur des Abends. Alexander Mikhailov kann ihr als zum Knödeln neigender Vassili nicht das Wasser reichen. Auch darstellerisch bleibt der russische Tenor blass. Scott Hendricks gibt Gleby als echten Kotzbrocken, der, ebenfalls nach Sibirien verbannt, dort nochmals Stephana bedrängt, aber den Kürzeren zieht und am Ende in der Deutung der Regie auch noch verrückt wird. Besonders im letzten Akt gelingt Barkhatov szenisch eine Verdichtung, wenn er die Bühne in zwei Teile teilt und Stephana zwischen dem Arbeitslager und ihrem alten feudalen Leben hin- und herswitchen kann. Sie entscheidet sich für Sibirien – und damit für ihren Tod. Wie bei Madame Butterfly hat auch ihr Lebensentwurf keine Zukunft.
Weitere Vorstellungen in Bregenz am 24. Juli und 1. August. Die Inszenierung ist eine Koproduktion mit der Oper Bonn und wird ab 12. März 2023 dort zu sehen sein.