Foto: Annette Büschelberger (Hekabe) © Felix Grünschloß
Text:Manfred Jahnke, am 10. April 2016
In den „Troerinnen“ erzählt Euripides von den Frauen, deren Männer im Vernichtungskrieg getötet wurden und nun auf ihre Versklavung warten. Sieger versuchen ihr Selbstbewusstsein zu heben, in dem sie ihre Macht an Schwachen spüren lassen. Demütigung, Vergewaltigung und Kindsmord sind diese Mittel, die in Troja als Herrschaftsinstrument funktionieren – wie heute auch. Aber es geht auch um Stolz. Hekabe, die Königin, ist als Sklavin Odysseus zugelost, was für sie schon eine Demütigung per se ist, aber das, was ihren Töchtern angetan wird, übersteigt alle Vorstellung, jede Begegnung bedeutet noch eine Steigerung in der katastrophalen Klimax bis hin zum Mord am Enkelsohn. Was sich in weiter Vorzeit abspielte, es ist erschreckend aktuell und lädt zu immer neuen Bearbeitungen ein, die vor allen Dingen den antiken Chor streichen und damit die Handlungen individualisieren.
Für das Badische Staatstheater Karlsruhe hat Konstantin Küspert eine Fassung geschrieben, die das Handlungsgefüge verknappt: So treten am Anfang nicht Poseidon und Athene auf, sondern der Meeresgott allein, der schon darauf verweist, dass die Täter auch Opfer sind wie umgekehrt. Sprachlich bleibt Küsperts Übertragung rhythmisch, nutzt aber den heutigen Alltagsjargon, so dass die Brutalität der Handlungen ganz nah in gegenwärtiger Wahrnehmung aufscheint. Andererseits schaffen die poetischen Sprachbilder den Handlungen eine abstrakte Modellhaftigkeit. Aus dieser Reibung zwischen Modell und aktualer Realisierung entwickelt Jan Philipp Gloger seine Inszenierung, die in ihrer visuellen Umsetzung ganz auf das „Modell“ setzt.
Ein weißer Steg, der von halber Höhe bis in die Tiefe führt und die sich darauf bewegenden Menschen manchmal ins Rutschen bringt, dominiert den Raum, der die kalten Betonwände im Hintergrund kahl belässt. Dieser von Marie Roth geschaffene Spielraum wird ergänzt durch die Schwarzweißvideos von Sami Bill, der in seinen Bildern über diesen Steg Wasser langsam fließen lässt, was manchmal auch Blut sein könnte, oder eine Unmenge an Wasserkäfern schwimmen lässt, unterstützt noch durch die Musik von Kostia Rapoport, in der chorische Elemente, die manchmal an gregorianische Gesänge erinnern, benutzt und rhythmische Instrumente, die der Inszenierung eine ganz eigene Erzählzeit geben. In diesem Spielraum versucht Gloger aus einem Changieren zwischen Konversationston und großem Ausbruch die Gesten der Trauer, des Schmerzes und der Verzweiflung als Chiffren zu setzen. Da auf diesem Steg von Gloger immer wieder geometrisch aufgebaute Beziehungen zwischen den Akteuren entstehen, entwickeln sich opernhafte Bilder.
Marie Roth hat das Ensemble in diesem abstrakten Spielraum in gegenwärtige Kostüme gesteckt. Annette Büschelberger im kurzen Schwarzen und blonder Perücke wirkt als Hekabe überraschend jung. Aber wie sie spielt, wie jeder Schmerz sie körperlich trifft, sie sich krümmt, aber dann mit jedem Schmerz auch „versteinert“, ist großartig. Florentine Krafft als Kassandra in Tüll zeigt den scheinbaren Wahnsinn ihrer Figur als Ausdruck der Verzweiflung, an den Verhältnissen nichts verändern zu können, weil niemand ihr zuhört. Mit großer Feinfühligkeit führt Amélie Belohradsky als Andromache eine Frau vor, die sich in ihrer Verzweiflung einzurichten versucht. Die Helena von Lisa Mies, im roten Kleid unter schwarzem Mantel, ist sich sehr gewiss, ihren Menelaos, von André Wagner als smarter Geschäftsmann vorgeführt, mit ihren Mitteln um den Finger wickeln zu können, auch, wenn am Ende ihre Rhetorik zu scheitern scheint. Sascha Tuxhorn spielt den Boten Talthybios als jemand, der einerseits zu den Siegern gehört, andererseits immer mehr Empathie mit den Besiegten empfindet, letztendlich aber den modernen Funktionärstyp verkörpert.
Die Premiere fand im Rahmen der Europäischen Kulturtage statt, in denen u.a. auch Fotoausstellungen zur Lage der Flüchtlinge auf Lesbos stattfinden. Nach Querverweisen muss man nicht lange suchen.