Berlin, Detlev Baur: Die texttreuere Uraufführung fand also zweifellos in Frankfurt statt. Hat aber das nüchterne Gerichtsspiel gegen gefühliges Menschentheater in Reeses Inszenierung gewonnen? In Berlin waren Timo Weisschnur und auch sein „Kamerad“, der Zeuge Lauterbach (von Helmut Mooshammer als ziemlich eitel dargestellt) nur bedingt sympathisch. Der Freispruch hat mich also gewundert. Schon die Besetzung der drei juristischen Hauptakteure durch Frauen haben aber wenig von Gerichtsalltag im DT vermittelt. Aber immerhin haben Zuschauer hinterher über die Inhalte der Aufführung diskutiert. Und ich erinnere mich an das ambitionierte Bankerstück „Himbeerreich“ (vor Jahren eine Koproduktion von Hasko Webers Stuttgarter Schauspiel und dem DT), die bei mir und Kollegen nicht gut ankam, vom Publikum aber sehr gut angenommen wurde. Ich hatte auch den Eindruck, dass die Schauspieler mit ihren Rollen und ihrem Text noch nicht ganz vertraut waren. Und dass die Inszenierung es sich und den Zuschauern eher schwergemacht hat den Reiz des Gerichtsdramas zu erkennen, weil sie gleich zu den humanistischen Fragen dahinter vordringen wollte: Der Staatsanwältin Frage an den Angeklagten, „Muss Menschsein nicht viel mehr bedeuten?“ wurde per Film mehrfach wiederholt. Und wie lautet Dein Gesamturteil der Frankfurter Inszenierung, Bettina?
Frankfurt, Bettina Weber: Der Reiz des theatralen Gerichtsdramas hat in Frankfurt, wie schon angedeutet, nicht gefehlt. Das hat mir grundsätzlich ziemlich gut gefallen – auch wenn in dieser vorausschaubaren, eindimensionalen Textinterpretation die Schauspieler auf der Bühne über große Teile des Abends weitgehend unbewegt blieben und die Figuren kaum Profil entwickeln konnten. Dennoch war das Ensemble in Frankfurt eindringlich überzeugend. Der Lars Koch von Nico Holonics ist erkennbar als Gegenpart zum Zeugen Lauterbach konstruiert, der nämlich auch in Frankfurt von Viktor Tremmel abgeklärt bis gefühllos und eitel gespielt wurde. Sympathisch war Lars Koch hier also allemal – und die Aufforderung des Richters am Ende, nicht nach Sympathien zu urteilen, natürlich gebrochen. Das Publikum wirkte in Frankfurt jedenfalls sichtlich gebannt, applaudierte geschlossen. Auf dem Weg ins Foyer schienen die meisten allerdings mehr über die humanistisch-juristische Frage des Stücks zu diskutieren als über Inszenierung – doch das ist ja vielleicht nicht die schlechteste Bilanz…
>>>>>> Eine Fortsetzung dieses Dialogs über die Doppel-Uraufführung von „Terror“ bringen wir im Dezemberheft der DEUTSCHEN BÜHNE <<<<<
Informationen zum Stück:
„Terror“ ist das erste Theaterstück des Verteidigers und Bestsellerautors Ferdinand von Schirach. Es wird vom Deutschen Theater Berlin und vom Schauspiel Frankfurt am 3. Oktober 2015 parallel uraufgeführt. Das ist auch deshalb interessant, weil das Ende, je nach Urteil des Publikums, in zwei verschiedenen Varianten gespielt werden kann: Schuldig oder Freispruch.
Das Stück ist also ein Gerichtsprozess, das Publikum soll die Rolle der Schöffen übernehmen. Angeklagt ist ein Kampfpilot der Bundesluftwaffe, der ein entführtes Passagierflugzeug mit 164 Menschen an Bord abgeschossen hat. Er wollte verhindern, dass es auf das vollbesetzte Münchner Fußballstadion gesteuert wird und dort bis zu 70.000 Menschen tötet. Von den Vorgesetzten hatte er ausdrücklich keine Erlaubnis dafür bekommen.
Der Richter, die Staatsanwältin, der Verteidiger, der Angeklagte, ein Hauptzeuge (aus dem Führungszentrum der Luftüberwachung) und eine Nebenklägerin, deren Mann bei dem Flugzeugabschuss starb, sind die Akteure dieser nüchtern und klar durchgespielten Verhandlung. Die Figuren werden nur durch den „Fall“ lebendig, nicht indem sie besonders ausgeschmückt wären. „Der Sachverhalt scheint klar vor uns zu liegen“, sagt der Richter. Aber so einfach ist es nicht, über Menschenleben und ihren Tod zu befinden.
Hintergrund des Stücks ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2006, das den wichtigsten Paragraphen des ein Jahr zuvor erlassenen Luftsicherheitsgesetzes wieder aufhob, zum Unmut des damaligen Bundesverteidigungsministers. Demnach dürfen entführte zivilie Flugzeuge nicht zum Schutz des Landes abgeschossen werden, weil jedes Menschenleben zu achten ist. Wie von Schirach den komplexen Sachverhalt in seiner humanen Bedeutsamkeit aufzeigt, ohne Theatertricks zu benutzen, und andererseits das Theater als Plattform der Rechtssuche nutzt und dabei ein spannendes Stück schuf, ist beeindruckend.
Noch in dieser Spielzeit stehen 14 weitere Inszenierungen des neuen Dramas an. Das ist ein sensationeller Einstieg für ein Stück, das zuvor noch nirgends zu sehen war, von einem Dramatiker, der zuvor noch nie gespielt wurde. Wir sind gespannt.