Foto: "Judas Maccabäus / And the Trains Kept Coming ..." am Staatstheater Nürnberg © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 24. Februar 2014
Um es vorweg zu sagen: Bei aller denkbaren Detail-Kritik zu diesem Nürnberger Menschenrechts-Projekt, die vor allem die geradezu logische Unerfüllbarkeit der eigenen hohen Ansprüche betrifft, ist dies ein faszinierender, emotional wie intellektuell berührender Musik/Theater-Abend, der zum Zweifel anstiftet. Ein Unikat im Spielplan, groß gedacht und gemacht.
Zwischen den beiden Werken, die im Abstand von 261 Jahren für die Konzertbühne entstanden und nun als durchaus kühn montierte Collage den gemeinsamen Weg ins Opernhaus schafften, liegen Welten – ästhetische wie politische. Einerseits das populäre Händel-Oratorium mit dem „Tochter Zion“-Hit, das die alttestamentarische Fabel von „Judas Maccabäus“ über Gebet, Schlachtruf, Lobpreis und Triumph so Metaphern-elastisch umsetzte, dass man die Spiegelung von jüdischem Selbstbewusstsein und Hohlraum-Pathos der Nazis gleichzeitig nach Belieben darin fixieren konnte. Im eingebauten Kontrast das 2007 als Auftragswerk in Boston uraufgeführte „And the Trains Kept Coming…“ des in Tel Aviv geborenen Komponisten Lior Navok, das auf der Basis von Dokumenten die millionenfache Ermordung der europäischen Juden zwischen 1941 und 1945 mit der Frage verbindet, warum Amerikaner und Briten die Bombardierung der KZ-Zufahrtswege verweigerten. Die flehenden Opfer und die zögerlichen Retter sind als Zeugen einer unauflösbaren Problematik aufgerufen, die bis in die aktuellste Tagesschau reicht.
Regisseur Stefan Otteni und Kapellmeister Peter Tilling schaffen Reibungshitze, wenn sie auf Peter Sciors steiler Laufsteg-Szene zum integrierten Orchester die beiden Oratorien miteinander verbinden. Navoks knapp 45 Minuten dauerndes Werk auf den Spuren des Holocaust, eine Europa-Premiere, wird mit großen Teilen eines über Jahrhunderte zum Vorzugs-Repertoire der Laien-Chöre zählenden Händel-Bibelspiels konfrontiert. Es beginnt 1944 mit der Chor-Probe zu „Judas Maccabäus“ (man singt „befreites Vaterland“ statt „Judäa“), die den Parteisekretär als Beobachter hat und bei der tönenden Klage übers „Joch der Sklaverei“ durch Luftschutzsirenen unterbrochen wird. Wenig später, nun 1945, bricht durch die Rückwand das Archiv des Schreckens, vergebliche Hilfe-Rufe im Zeugnis fliegender Blätter. Die Sänger, gerade noch gebannt von den alttestamentarischen Trost-Ritualen aus Bedrohung und Erlösung, wühlen fassungslos in den Papieren. Händels elegischer Sound wird verdrängt von der wütenden Rhythmik, mit der Lior Navok seine Fakten bewaffnet. Großer Bläser-Einsatz für tonale, in ihrer emotionalen Attacke sofort verständliche Klänge, die oft an Leonard Bernstein erinnern. Wenn das Orchester immer wieder über die Anklagen hinweg fegt, ist das eine besonders starke Metapher: Die Wahrheit wird einfach nicht gehört. Der globale Knüppel-Begriff „illegaler Einwanderer“ schwirrte da längst durch die Erinnerung und muss am Ende des Abends wie selbstverständlich in der Gegenwart zwischenlanden.
Im etwas zu wortlastig geratenen zweiten Teil der Aufführung ist aus dem Bunker ein Kulturhaus geworden, wo offensichtlich Gedenkfeiern mit Kranzniederlegung den Spielplan bestimmen. Auch hier wird „tiefster Jammer“ im biblischen Ausmaß entfaltet, ehe Platz für „Lobgesang“ ist. Redner treten auf, stellen Fragen nach Schuld und Gerechtigkeit, bemühen schon wieder Gottes Willen für ihren irdischen Pragmatismus. Der Hilferuf aus Syrien verhallt, ein flotter General macht den „humanitären Krieg“ der Drohnen als Vision schmackhaft.
Musik aus der Gegenwart hat Stefan Otteni für diese Passagen (leider) nicht, er kontert Händel mit aufgebrochenen Texten. Etwa der gewundenen Obama-Rede bei der Nobelpreis-Verleihung, die als grotesker Widerspruch in sich inszeniert ist, und Netanjahus ausweichenden Blick ins eigene Familienleben. Wo Händels „göttliche Gesänge“ erklingen, erzählt die Gewalt der Körpersprache das Gegenteil. Aufgetürmte Thesen lösen sich erneut in Zweifel auf, sobald der Chor im Dunkeln verschwindet. Die aufhellenden ironischen Brechungen, wenn etwa die prototypisch eifernde Stimme in jedem denkbaren Zusammenhang auftaucht, bleiben denn doch zu zaghaft.
Nein, optimistisch ist dieser Theaterabend nicht – aber in seiner offenen Ratlosigkeit wahrhaftiger als viele andere. Die Staatsphilharmonie Nürnberg, die mit Händel in den letzten Jahrzehnten kaum Erfahrung hatte, fand unter Peter Tillings Leitung zur angemessenen, energisch um Stilsicherheit kämpfenden Interpretation. Der groß eingesetzte Chor, von Tarmo Vaask einstudiert, war auch darstellerisch in Bestform. Hochklassige Sänger (wie Mark Adler, Martin Berner und Leila Pfister) und Schauspieler (wie Gina Henkel, Gesa Badenhorst und Stefan Willi Wang) füttern die Assoziationen der Zuschauer nach Regie-Rezept. Gedanken und Gefühle passen zusammen. Langer, verdienter Beifall und Bravo-Rufe für beispielhaft herausforderndes Theater.
Weitere Vorstellungen: 28.02., 6. und 12.03., 7. und 8.04.2014