Foto: "Die Lücke" am Schauspiel Köln. Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir, Kutlu Yurtseven (im Hintergrund: Thomas Müller, Annika Schilling, Simon Kirsch) © David Baltzer
Text:Bettina Weber, am 10. Juni 2014
Theaterkritiken sind üblicherweise keine persönlichen Geschichten. Diese hier ist eine geworden. In Köln-Mülheim, genauer, in der Keupstraße – heute meine unmittelbare Nachbarschaft – explodierte vor zehn Jahren eine Nagelbombe. 22 Verletzte, mehrere zerstörte Geschäfte. Ein fremdenfeindlicher Hintergrund wurde sieben Jahre lang mehr oder weniger kategorisch ausgeschlossen, Anwohner wurden verdächtigt, Opfer zu vermeintlichen Tätern gemacht. Inzwischen ist bekannt, dass der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) für den Anschlag verantwortlich war, wie auch für einen weiteren Anschlag in Köln und viele andere in Deutschland.
Das gemeinsame Gedenken sollte nun in Form einer großen Party stattfinden: Mit Respekt für die Opfer und ihre Angehörigen, aber ohne Opferkult. Lesungen und Bühnen für Bands und Theater gab es daher in der ganzen Keupstraße und im CarlsWerk, der Interimsspielstätte des Kölner Schauspiels, außerdem viele Informations- und Diskussionsveranstaltungen zu den Ermittlungen der Behörden und zum NSU-Prozess, am dritten Tag eine große Kundgebung mit Beträgen von Bundespräsident Joachim Gauck und vielen Künstlern von Peter Maffay bis zu den Fantastischen Vier. Über 100 Veranstaltungen. Mit einem roten Stift markierte eine Freundin sich im Faltplan all das, was sie unbedingt sehen wollte: Das Landespolizeiorchester NRW im gemeinsamen Konzert mit dem Türkischen Nationalorchester, eine Lesung von Günter Wallraff im Hinterhof des Frisörsalons, vor dem damals die Bombe explodierte, etc. etc, etc.
Zur Eröffnung des dreitägigen Kunst- und Kulturfestes „Birlikte – Zusammenstehen“ fand im Schauspiel Köln, dessen Interimsspielstätte CarlsWerk sich direkt neben der Keupstraße befindet, die Uraufführung des dokumentarischen Stücks „Die Lücke“ statt. Ein Jahr lang hat der Regisseur Nuran David Calis immer wieder mit Anwohnern der Keupstraße gesprochen. Das Stück ist damit Teil eines Projekts der Aufarbeitung. Es sammelt die Stimmen vieler Menschen aus der Nachbarschaft, drei von ihnen sind auf der Bühne. Ismet, Ayfer, Kutlu und die anderen, die über Videoeinspielungen zu sehen sind, erzählen ihre Geschichten. Ein Augenzeuge berichtet davon, dass er sich mit seiner Verletzung nicht zum Arzt getraut habe. Er war einer der Zeugen, die alles sahen und äußerlich kaum verletzt wurden – und die genau deshalb von der Polizei verdächtigt wurden. Die drei Bürger auf der Bühne werden von drei Schauspielern befragt, die zunächst eine ganz schön ungemütlich Rolle spielen, nämlich die derjenigen, die glauben, keine Vorbehalte zu haben, obwohl sie doch im Hinterkopf vorhanden sind. Der Tenor: „Das sei ja alles gut und schön mit der gesellschaftlichen Offenheit und Toleranz, aber irgendwann wäre da doch immer etwas Fremdes, dass das einem auch fremd bleibt, mit dem man nicht umgehen kann.“ Neben mir nickt ein Mann. „Genau“, sagt er. „Oha“, denke ich. Das Stück hat also recht. Und es erzählt darüber hinaus viele unangenehme Wahrheiten, die nicht neu sind, aber in ihrer Zusammenstellung erschreckend: Dass Thilo Sarrazins Hetzbuch ein Kassenschlager ist, zum Beispiel. Dass in München Zeugen ausgesagt haben, sie hätten mit Tzschäpe, Mundlos und Böhnhardt regelmäßig zu Abend gegessen, neben einem Bild von Adolf Hitler an der Wand, aber vom Fremdenhass der drei hätten sie nichts gewusst. Immer lauter sprechen, schimpfen, schreien die Schauspieler diese Fakten ins Mikrofon. Immer unruhiger rutschen die Zuschauer in den Sitzen hin und her. Die Konfrontation ist gut. Im Schlussapplaus (ich besuchte die zweite Vorstellung am Pfingstsonntag) steht das gesamte Publikum auf.
Am Pfingstmontag versammelt Birlikte zum Abschluss noch einmal über 50 000 Menschen in Mülheim. Es ist heiß, über dreißig Grad, die Menschen trotzen der Hitze. Sie wollen ein Zeichen setzen. Zwischen Döner und Bratwurst tanzen und singen die Leute, lauschen und applaudieren der Musik und den Wortbeiträgen prominenter Menschen auf einer großen Bühne neben der Keupstraße. Mehr als ein Zeichen kann so ein Fest nicht sein, aber es ist ein gutes Zeichen. Als gegen 20 Uhr wegen des drohenden Unwetters in Köln die Veranstaltung abgebrochen werden muss, gehe ich noch schnell in „meinen“ Kiosk, am anderen Ende der Keupstraße, fünfzig Meter von dort, wo ich wohne. Der Kioskbesitzer erzählt mir, dass er zu den Angehörigen der Opfer gehört. Er sei nicht zu Birlikte gegangen, aber er habe sich gefreut, dass so viele Menschen gekommen sind. Es könnte eine Idee sein, etwas von diesen Tagen mitzunehmen, und regelmäßig „Birliktes“ in der Keupstraße zu veranstalten. Vielleicht würde ich dort beim nächsten Mal den Kioskbesitzer von nebenan treffen.