Foto: Mary Wigmans "Le Sacre du Printemps" in München © Wilfried Hösl
Text:Bettina Weber, am 14. Juni 2014
Ein zuckender Körper, eindrücklich-donnernde, verstörende Musik. Inmitten einer großen, runden Formation des Corps de ballett dreht, windet und krümmt sich im langen, blutroten Kleid final: die Erwählte. Wir haben Nijinskis Opfer aus „Le Sacre du Printemps“ in unzähligen Variationen gesehen. Unter diesen Choreographien sind manche unvergesslich. Zu den prominentesten Meilensteinen zählen etwa Pina Bauschs oder John Neumeiers Kreationen – und sie werden es auch bleiben, nicht zuletzt deshalb, weil ihre Erschaffer noch lebten und arbeiten oder zumindest bis vor wenigen Jahren lebten, und weil sie bis heute auf der Bühne zu sehen sind. Mary Wigmans Choreographie des Stücks dagegen, ein Auftragswerk für die Berliner Festspiele 1957, war nach einer Reihe von Aufführungen im Anschluss an die Premiere in der Versenkung verschwunden – erhalten sind jedoch zahlreiche Skizzen, Fotos und Aufzeichnungen. Und da der „Tanzfonds Erbe“:http://www.tanzfonds.de (eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes) fleißig daran arbeitet, die Revitalisierung von Tanzgeschichte zu fördern, wurden zuletzt in der Republik allerorten Neueinstudierungen und Rekonstruktionen auf die Bühne (zurück-)gehoben.
Nachdem die Initiative zu der Rekonstruktion von Wigmans „Le sacre du Printemps“ aus den 1950er Jahren von der Osnabrücker Tanzdramaturgin Patricia Stöckemann ausgegangen war, fand auch die Premiere in Osnabrück und anschließend in Bielefeld statt (insgesamt sind Osnabrück, Bielefeld und München an der Kooperation beteiligt). Daher zeigt sich in München grundsätzlich kein vollkommen neues künstlerisches Produkt, zumal Henrietta Horn, die schon an den beiden anderen Theatern die künstlerische Leitung der Rekonstruktion innehatte, auch hier das Projekt geleitet hat. Anders freilich war der Rahmen: Während in Osnabrück und Bielefeld Wigmans Tanz durch neue Choreographien von Mauro de Candia und Gregor Zöllig erweitert wurde, zeigte das bayerische Staatsballett eine Wiederaufnahme der literarisch inspirierten, sehr modernen Arbeit „Das Mädchen und der Messerwerfer“ von Simone Sandroni zum Auftakt des Abends.
Die „Sacre“-Choreographie setzt dazu gewissermaßen den historischen Kontrapunkt: Sehr strukturiert und mit strenger Synchronität formiert sie die Tänzer zu strengen Linien, Gängen und konzentrischen Kreisen. In den systematischen Bewegungen, aber auch durch die historischen, langen Kostüme (Alfred Peter) konzentriert sich Wigmans Arbeit auf den archaisch-kultischen, ritualisierten Akt der Opferung. Das Oper selbst ist kaum ängstlich, vielmehr zeigt sie neben der Verzweiflung eine vorausahnende, stolze und tragende Haltung, zart und bestimmt wird sie getanzt von der Tänzerin der Premiere, Ilana Werner. Beeindruckend ist in der Münchener Aufführung aber auch die originalgroße Besetzung mit insgesamt 45 Tänzern und Tänzerinnen auf der großen, angeschrägten Kreis-Bühne. Da die Arbeit in dieser Spielzeit nur in der Reithalle gezeigt werden konnte, wo es keinen Orchestergraben gibt, wurde hier zunächst eine Fassung für zwei Klaviere einstudiert. So großartig diese beiden Pianisten (Myron Romanul und Simon Murray) auch spielen – und das gelingt ihnen ohne Frage, sie ernten berechtigerweise einen tobenden Applaus – auf diese Weise fehlt musikalisch naturgemäß ein gewisses Futter. Damit verliert so manches dramatische Moment an Gewicht. Eine stärkere Wirkung kann diese Produktion sicher erzielen, wenn München sie im nächsten Jahr mit Orchesterbegleitung an einem anderen Ort zeigt.
Mit dieser Arbeit ist vielleicht kein Schatz geborgen worden, der heute in denselben Farben glänzt wie zu seiner Entstehungszeit – ihn umweht der Wind einer anderen Zeit. Dennoch ist es ein lohnendes wenngleich mühsames Unterfangen, die Arbeit einer derart bedeutenden Choreographin des letzten Jahrhunderts wieder zum Vorschein zu bringen: Es vervollständigt unseren heutigen Blick auf das große Repertoire der Sacre-Variationen. Chapeau.