Foto: „AUFBRUCH!” Eine Koproduktion des Deutschen Nationaltheaters Weimar und des Stuttgarter Balletts © Monica Menez
Text:Vesna Mlakar, am 29. März 2019
Drei Stationen – drei Handschriften – drei Erlebnisparcours: Der neue Ballettabend „Aufbruch!“ des Stuttgarter Balletts ist ein Wurf. Künstlerisch unterhaltsam und visuell abwechslungsreich. Allerdings beladen mit Inhalten, die sich per se eigentlich totaler Abstraktion oder allzu konkreter Narrativität verweigern: Schließlich hätte die den Uraufführungen von Ballettintendant Tamas Detrich zugrunde gelegte Auftragsidee, der radikalen Aufbruchsstimmung durch die Verabschiedung der Weimarer Verfassung und Gründung des Staatlichen Bauhauses in Weimar vor 100 Jahren choreografisch nachzuspüren, auch Sprödheit und den Charme formal-beseelter Nüchternheit verströmen können. Davon jedoch keine Spur!
Nanine Lanning: „Revolt“
Die Niederländerin Nanine Linning – bis Ende letzter Spielzeit Ballettchefin am Theater Heidelberg, seither als Freelancerin unterwegs – nahm sich der Revolte hinter dem am 31. Juli 1919 im Weimarer Nationaltheater beschlossenen Manifest parlamentarischer Demokratie an. Ausgehend von der Frage, wie solch sozialpolitische Bewegungen eigentlich entstehen, und sich nachhaltig bzw. zielführend entfalten. Das Resultat sind eindrückliche Bildevolutionen in graublau für lawinenartiges Brodeln in einem von drei Wänden begrenzten Raum.
Kein bisschen dröge oder gar langweilig – wie sicherlich für die meisten die Lektüre von Verfassungsparagrafen – begeistern Linnings Bewegungscluster, die sich innerhalb von 30 Minuten in Tänzerzahl und Schrittverkettungen kontinuierlich steigern. Voll von hyperschönen, flüchtigen Bewegungsskulpturen, die die sieben barfüßigen Tänzerinnen und neun Tänzer immer wieder urplötzlich aus dem Fließen von Paarkonstellationen, Trios oder kleineren Gruppierungen herauszaubern. Nebst ständig untergründig schwelenden Kraftexplosionen und expressiven Richtungswechseln. Markant der Umgang mit dem Boden und Einsatz schnell vom Körper weggedrückter, mal aufgebracht, mal aufgeregt-gereizt wirkender Arm- und Handaktionen. Herrlich prägnante, symbolhaft stilisierte Argumente gegen einen unsichtbaren Widerstand.
Unbeirrbare Anführerin ist Angelina Zuccarini. Sechs Paare in kobaltblau (Kostüme: Irina Shaposhnikova) gesellen sich ihr hinzu. Dann bricht die Atmosphäre. Ein Männertrio mit verstärkten Schuppen auf schwarzen Trikots sorgt für aufwieglerisch-irritierende Gegenmomente. Auch hier schließen sich bald andere dem ins Plié tiefergelegten athletischen Oberkörper- und Kopfkreisen von Louis Stiens an – einem Tänzerkaliber, das – die Gruppe hinter sich – besonders dynamisch nach vorne prescht. Man beobachtet und taxiert sich. Am Ende tragen alle raffiniert geflochtene Röcke und Helmmasken, stellen sich geschlossen einer Projektion von Schatten – bis die Mauern sich zu heben beginnen.
Interessant ist Linnings Themenwahl in Stuttgart gleich doppelt. Detrich hatte gerade erst mit dem vorangegangen Premierenabend am 22. Februar Jiří Kyliáns dreiteiligen Abendfüller „One of a Kind“ (was übersetzt „einzigartig“ bedeutet) ins Repertoire übernommen – ursprünglich 1998 im Auftrag der niederländischen Regierung zum 150-jährigen Jubiläum der Landesverfassung kreiert. Zuvor war in „Shades of White“ an die Grazie, Anmut und Schönheit weißer Akte und Ballerinen in weißen Tutus erinnert worden. So könnte man den Aufbruch des Stuttgarter Ensembles in eine Ära unter neuer Führung aktuell als „rückwärtsgewandt nach vorne schauend“ zusammenfassen.
Mit „Revolt“ von Nanine Linning klingt der kurz und bündig „Aufbruch!“ überschriebene Ballettabend zeitgenössisch höchst ästhetisch und inhaltlich vortrefflich zeitlos-aufwühlend aus. Es ist das einzige Stück, das vom Staatsorchester Stuttgart unter emphatischer Leitung von Wolfgang Heinz live aus dem Orchestergraben begleitet wird. Eine gute Chance, die Komposition „Weather“ des US-Amerikaners Michael Gordon, der beeinflusst von Minimal Music mit unterschiedlichen Klangmöglichkeiten experimentiert, in szenisch kongenialer Umsetzung zu erleben.
Katarzyna Kozielska: „It.Floppy.Rabbit”
Das ästhetische Zersprengen alter Strukturen durch Walter Gropius’ 1919 formuliertes Konzept einer revolutionären Kunsthochschule, in der Meister und Studierende, Frauen wie Männer und der Handwerker ohne wertende Abgrenzung zum Künstler miteinander arbeiteten, steht dagegen im Fokus der beiden ersten Teile. Zu Beginn gibt es ein Wiedersehen mit Katarzyna Kozielska. Gerade erst hat sie ihre aktive Tänzerkarriere als Ensemblemitglied des Stuttgarter Balletts beendet. „It.Floppy.Rabbit“ – den Titel muss man nehmen, wie er ist: ein Wortgedanken-Splitter aus den Proben – ist ihr origineller, durchaus griffiger, jedoch schwer in verbale Entsprechungen zu packender Neustart als freischaffende Choreografin.
Sie wagt einen Flashback in jene kreative Zeit, wo am Bauhaus die unterschiedlichsten Materialien miteinander in Beziehung gesetzt wurden und Interdisziplinarität hohen Stellenwert innerhalb der künstlerischen Lebenshaltung hatte. Alles spiegelt sich wunderbar in der retrofindigen Ausstattung von Katharina Schlipf wider. Gebrauchsgegenstände – so drei mobile, innen begehbare unterschiedlich große Schrankteile mit einer Oberfläche aus braunen Bändern, die aus der Ferne an dunkles Holzfurnier erinnern – bekommen hier ein Eigenleben. Projektionen auf den aus geometrischen Flächen zusammengesetzten Hintergrund nehmen gedruckte Stoffmuster raffinierter Kostüme vorweg, deren Clou eine Schleppe ist, die die tanzenden Partner bzw. Solist und Gruppe miteinander verbindet. Auf so ungewöhnliche Ideen musste man vor 100 Jahren und muss man bis heute noch kommen.
Mal gebogen, mal eckig, insgesamt recht dynamisch zackig, darüber hinaus recht kess und sogar komisch geht es in Kozielskas Erkundungen der Bauhaus-Werkstätten zu. Den Sound, der die 12 Tänzer auch mal zu Zitaten aus dem Salontanzvokabular animiert, hat Benjamin Magnin de Cagny eigens mit Anklängen an Steve Reich dem Stück angepasst. Es wird akustisch gehobelt, und Stuhlbeine werden verrückt. Dazu finden sich die Interpreten in immer wieder neuen Konstellationen aus Chaos und Ordnung zusammen. Handwerklich haben Kozielskas prompte Formationsanordnungen Hand und Fuß!
Die junge Diana Ionescu wird zu einer Art Leitfigur. Mittendrin landet sie – völlig unterwartet – den Kopf voran in einer der Boxen. Ihre Beine ragen wie eine Schere quer in die Luft, während eine gefilmte Hand in aller Eile den Rest des Körpers als Skizze einer Schlemmer-Figurine aus dessen „Triadischem Ballett“ ergänzt. Es gibt sogar eine Rolle für Wilhelm Wagenfelds berühmte Leuchte WA 24 – eines der ersten ikonischen Objekte der Weimarer Werkstätten. Keine selbstverständliche Aufgabe für die im Latexdress unter dem riesigen milchglasgewölbten Lampenschirm in XXL mit funktionierendem Schalterschnürchen durchgehend quasi kopflos agierende Tänzerin. Partnerlos bleiben ihre Auftritte trotzdem nicht.
Bei Katarzyna Kozielska tanzen die Frauen auf Spitze. Sie flirten in Attitüden und schwingen immer wieder bedeutsam ihre Zeigefinger. Etwas weniger verspielt verpulvern die Männer in sporadischen Sprüngen Energie. Man durchmisst den Raum in zerhäckselten Schrittsequenzen. Beim Schlussabgang durch die Mitte nimmt Diana Ionescu ihren Partner mit sich. Die tatendrang-nervös-flirrende Hommage an die Bauhaus-Künstler kulminiert in einem intimen, von lauter kleinen Lampen erhellten Wohnambiente. Unerreichbar für den Zuschauer.
Edward Clug: „Patterns in ¾“
Ganz in die geradlinige Architektur des Bauhauses mit ihrem Faible für Balkone entführt danach in „Patterns in ¾“ Edward Clug. Der gebürtiger Rumäne und seit 15 Jahren Chef des Slowenischen Nationalballetts Maribor ist im Stuttgarter Repertoire bereits mit vier Werken vertreten. Aber so puristisch reduziert und wirkungsvoll steif, so absurd humorvoll heruntergebrochen auf das Wesentliche von Bewegung im Raum war seine Sprache bisher selten. Ihm gelingt es, den Zuschauer in eine neutrale Atmosphäre zu versetzen, wie sie manche Bilder von Oskar Schlemmer und dessen emotionsfreie Figuren ausstrahlen.
Auf einer grauen Fläche vor grauem Hintergrund beginnen seine Interpreten – drei Frauen und vier Männer in schwarzen Hosen und weißen Oberteilen, über die sich hinten ein roter Strich zieht – taktgenau zu Steve Reichs „Tokyo/Vermont Counterpoint“ mit vor dem Körper herabgestreckten Armen zu pendeln. Es sieht ein bisschen so aus, als würden ihre Hände dicke Luft durchkämmen. Später, wenn die sich wiederholenden Schrittmuster an Drive und Komplexität gewinnen, kommen serielle Marimba- und Klavierklänge des Slowenen Milko Lazar hinzu. Bald schwingen – stets auf geradlinigen Wegen – weitere Körperpartien. Paare verhaken sich mit angewinkelten Ellenbogen zu Pirouetten im Duett. Diesen voll Ernsthaftigkeit schematisierten Spaß könnten sie, adrett wie sie anmuten, auch unter einer Pyramide aus dem Erzgebirge vollführen. Im schlicht funktionalen Bühnenbild von Marko Japelj verschmelzen Tanz und Klang zu einem Räderwerk an Präzision.
Die trippelnde, schlurfende, im Paar nebeneinander einfach nur hoch hüpfende oder sich variationsfreudig hin- und herschiebende Crew strahlt famose Leichtigkeit aus. Demonstrativ gewandt: ihre Kunstfertigkeit, flexibel mit Stand- und Spielbein umzugehen. Das ist aber bei Weitem noch nicht alles, was Clug aufzubieten hat. Urplötzlich lässt er Japeljs überdimensionale Kulissenwinkel von der linken Bühnenseite Richtung Zentrum fahren – einen nach dem anderen, mit einer Palette an choreografischen Ideen dazwischen. Tänzer verschwinden und tauchen wieder auf. Dann sieht man nur mehr ihre Oberkörper, bis sie im Quartett mal vor und mal hinter oder spontan quer über den fahrbaren Elementen agieren.
Der kurze, bodengelagerte Schenkel des rechten Winkelelements wird zur Brüstung, auf der Frauen sitzend fix mal die Beine übereinander schlagen. Alltagsgebaren. Als erst ein, dann zwei Köpfe – Bowlingkugeln gleich – über den Balkonrand rutschen, erreicht das findige Sichtbeschneiden seinen Höhepunkt. Die aus Reduktion aufgebaute Spannung entlädt sich humorvoll, bevor sich das abstruse Betonarrangement wieder schließt. „Patterns in ¾“ endet fast, wie es begonnen hat. Bloß die Arme schwingen jetzt heftiger. Im Kreis komplett um die Köpfe herum. Der Abend birgt Potenzial für Lieblingstücke. Als Triple Bill wurde er verdientermaßen bejubelt. So unterschiedlich wie die drei Gastchoreografen Aufbruchsstimmung in Tanz übertrugen, war einfach – wie die Schwaben sagen: starke Kunscht.