Foto: Szenenfoto aus „INNEN. NACHT“ © Isabel Machado Rios
Text:Michael Laages, am 14. März 2021
Die „Orion 8“ ist gelandet. Aus dem Raumschiff klettert die Besatzung – mitten hinein in die wüste Leere eines längst vergessenen Planeten. Aus dem Helm der Schutzkleidung heraus erklärt uns einer, womöglich der Kapitän, was er schon vorher (er ist ja gerade erst gelandet) gewusst oder geahnt haben muss über diesen toten Stern – und in dieser Erzählung sind all die verzweifelten Gedanken und Beobachtungen versammelt, die seit mittlerweile vielen Jahren kulturpessimistische Analysen über den Zustand der Welt, wie wir sie kennen, begründet und verstetigt haben. Humanistische und zivilisatorische Selbstverständlichkeiten sind auf Unter-Null-Niveau geschrumpft oder schon ganz verschwunden, die an radikalem Individualismus und rücksichtslosem Konsum orientierte Moderne zerstört alles, jede und jeden.
So weit, so unerträglich – und so bekannt ist die Oberhausener Szenerie in Bert Zanders „INNEN. NACHT“.
Der Gast aus einer anderen Zivilisation (einer klügeren? Wir erfahren es nicht …) entdeckt im fremden, von diffusem Licht durchzogenen Raum merkwürdige Lemuren – Menschen, die als Video-Projektion in Kästen zu stehen scheinen, eventuell senkrecht im eigenen Sarg, und von früher erzählen. „Wer wir waren“ wird auf eine Wand geschrieben – und die Schauspielerinnen und Schauspieler erzählen tatsächlich von eigener Kindheit und Jugend: Anna Polke, Tochter des Malers, erzählt vielleicht tatsächlich von Mama Augustina und Papa Sigmar, Torsten Bauer von jungen Jahren in der DDR – er ist tatsächlich am Tag des Mauerbaus zur Welt gekommen, im August vor 60 Jahren. Christian Bayer, der aus Gotha stammt, schreibt gegen Ende gar einen virtuellen Brief an den stummen Vater, der nach der Wende im Osten dauerarbeitslos und im Alkohol verdämmerte; Agnes Lampkin beschwört derweil das Fremdsein in der Fremde – und zitiert irgendwann aus dem Gedichtband von Stephanie-Lahya Aukongo, die wuchtig die Moralkeule schwingt und sich für jeden und jede schämt, die und der sich nicht schämt für das, was ihm das Leben mit auf den Weg gab.
So erzählt jeder und jede von der Verzweiflung, die uns umtreibt – weil wir sind (und im Prinzip ja bleiben), was wir sind; und nirgends Aussicht auf Besserung besteht. Diese Erinnerungskonstrukte sind bedingt real und oft auch gebrochen; Bauer etwa erzählt von sich im Tütü eines Ballerinen-Kostüms. Gegen Ende sind alle aus der Projektion heraus getreten und „wirklich“ da. Immer präsent bleibt aber der Gedanke von irgendeiner Art von „Zuhause“, wo und was auch immer das ist – und in die klügsten Minuten dieser Recherche singt Georg Kreisler das Lied vom „Weder noch“ hinein; unbedingt suchen im Netz und anhören, liebes Publikum, liebe Leserschaft! Ein Meisterwerk – wer auch immer es in diesen Theaterabend bugsiert, ist zu beglückwünschen.
Ein Theaterabend: ja. Zwar erforschen Kameras den Raum (vermutlich die leer geräumte Bühne des wunderbaren Oberhausener Theaterhauses); und „INNEN. NACHT“ ist ja auch eine Szenenanweisung für einen Film-Dreh. Aber nur sehr selten wird dem Publikum die kameratypische Nah-Betrachtung aufgedrängt – im Grunde nur, wenn sich der Raumschiff-Kapitän aus dem Schutzhelm meldet. Der Medien-Mix gelingt also durchaus wieder; Zander hatte ja im ersten Lockdown schon für eine Überraschung gesorgt mit der eigenen Fassung des Camus-Romans „Die Pest“ (siehe hier unsere Kritik, Anm. d. Red.). Allerdings ist das Thema jetzt merklich schwächer – obwohl es ja aus der virtuellen Rückschau noch einmal um alles geht: die Rettung von Menschheit und Welt.
Darum allerdings geht’s im Moment ja immerzu. Aber letzte Worte wie „Ich muss mich ändern, dann verändert sich die Welt“ wirken mittlerweile ein wenig abgenutzt. Das weiß die Welt schon recht lange – und was ist passiert?