Foto: Lisa Hagmeister (mitte), Oliver Mallison (unten) und Jörg Pohl im Thalia-"Tartuffe" © Armin Smailovic
Text:Ruth Bender, am 11. September 2017
Schlaff wie liegen gelassene Spielzeuge hängen sie herum. Aufgebraucht wie nach der Kinderzimmerschlacht. Oder dem Gelage, dessen Überreste eben noch auf der Leinwand hinter dem Glitzervorhang zu sehen waren, zusammen mit der versammelten Familie: derangiert, ermattet, leer. Kein Wunder, das Madame Pernelle, die Patriarchin, die Nase voll hat und jetzt mal ihren Traum vom Familienleben von der Bühne herunterlamentiert: „I have a dream …“ Von Wundern, Engeln, Zukunft und Märchen ist auch die Rede. Aber dann ist das Wichtigste bloß, dass es endlich wieder nach Pernelles knallroter Perückenmütze geht.
So trifft Molière zur Spielzeiteröffnung im Hamburger Thalia Theater bei Stefan Pucher auf die schwedischen Superstars von ABBA, die desolate Barock-Familie im „Tartuffe“ auf den Schlagerschmelz der Siebziger-Achtziger und die Heuchelei des 17. Jahrhunderts auf die Fake News unserer Tage. Tartuffe, der Familienparasit, der als religiös umflorter Tugendbold in Haus und Hirn des Herrn Orgon breit macht, passt da so prächtig hinein wie der willig verblendete Hausherr, der Tartuffe erst sein Vermögen, dann die Tochter überschreibt. Aber auch die zersprengte Familie mit ihren Ego-Spielchen. Hier fährt man einander über den Mund oder in die Parade. Und was gesagt wird, ist sowieso egal; wichtig ist, was der andere herausliest.
Molières Egozentrikern und ihren verbalen Scharmützeln hat Barbara Ehnes eine Bühne gebaut, die mit Drehscheibe und Sitzmöbeln nicht von ungefähr an die pseudo-gemütlichen Talkrunden im Fernsehen anknüpft, wo das Gespräch ja auch häufig in der Emotion ertrinkt. Pucher versetzt Luc Bondys elegante Übersetzung mit ABBAS weichgespülten Poptexten und spiegelt in seiner Inszenierung eine Gesellschaft im Schlagermodus – aufgeputscht von Worthülsen und Melodieschmelz, getrieben von abrufbaren Impulsen und Instantgefühlen. So aufgeplustert wie die Kostüme (Annabelle Witt) mit ihren Rüschen und Glitzereffekten kochen die Emotionen hoch, bevor sie zügig wieder zusammen fallen.
Wie Bauklötze ohne Plan setzt Pucher die Figuren auf die Bühne, der Zusammenhang ergibt sich aus dem Moment – und manchmal aus der Absicht, etwa wenn Orgons Gattin Elmire Tartuffe verführt und mit seinen eigenen Waffen schlägt. Lisa Hagmeister wird da mit „Gimme Gimme“ zur schlangenhaften Glam-Queen. Gefühle entstehen wie Milchschaum, das Dasein funktioniert als dünne Show, und die Sprache ist den Figuren so komplex und anstrengend, dass sie höchstens noch auf Schlüsselworte reagieren. Sohn Damis (Steffen Siegmund) als gewaltbereiter Rapper, Onkel Cléante (Matthias Leja) als Intellektueller und Orgon (Oliver Mallison) als Glamrocker, der die Sache auf den Punkt bringt. „Warum? Weil es die Wahrheit ist“, erklärt er Tochter Mariane, warum sie anstelle des geliebten Valère plötzlich Tartuffe heiraten soll. „Und außerdem habe ich es so entschieden.“
Karin Neuhäuser ist daneben ein furchterregendes Schwiegermonster, Birte Schnöinks fönfrisierte Mariane jederzeit mit der blonden Agnetha Fältskog zu verwechseln und Victoria Trauttmansdorffs scharfzüngig gewitzte Dorine durchaus mit Madonna. Die kann auch Tartuffe lässig abkanzeln: „Das bisschen Figur bringt sie so durcheinander …“
Das ist eine Klasse-Idee. Von hohem Unterhaltungswert sowieso, wenn sich die Akteure zu rasanten ABBA-Covern aufschwingen – zwischen Elektro, Glam und Techno schön Achtziger-poppig arrangiert von Christopher Uhe. Und dann zündet der Abend doch nicht so richtig. Das liegt an Tartuffe, der in Gestalt von Jörg Pohl seltsam blass und verhalten bleibt, im überdimensionierten Kragen eine Karikatur seiner selbst, ein Schleimer, der die anderen machen lässt und manchmal selbst kaum glaubt, was ihm da gelingt. Und die übrigen Figuren erscheinen zuweilen so zu Hülsen degradiert, dass Langeweile droht. Aber vielleicht ist es ja auch genauso: Dass die Gesellschaft damals wie heute sich ihre Geister selber schafft – und sie dann nicht mehr loswird. Von Tartuffe bis Trump ist es da gar nicht weit.