Foto: Ensemble des Marburger Theaters in "Warum das Kind in der Polenta kocht" © Jan Bosch
Text:Jens Fischer, am 22. April 2023
Beiläufig startet der Abend. Schauspielerin Anna Rausch schlendert im Outfit der Autorin Aglaja Veteranyi auf die Bühne, begegnet den hochdimmenden Scheinwerfern mit einer Abwehrgeste und verweist mit depressiver Lakonie auf das, was folgt: „Als ich anfing meine Situation zu begreifen, mit 20 oder so, brach mein Leben mehr oder weniger zusammen.“ Tragisch wird also das Ende. Nachdem lustige, grell-komische, absurde, traurige und traumatisierende Episoden ihrer Vita aufgeblitzt sind, geht die Autorin-Darstellerin wieder ab – und verlässt den Saal durch den Notausgang. Was an ihren Freitod 2002 denken lässt. Ein großer dramatischer Bogen ist also gespannt, sackt das eine und andere Mal aber etwas ab, weil auch die fantasievollsten Bilderfindungen sich ab und an gegenseitig die Wirkung nehmen, trägt aber trotzdem über pausenlose 130 Minuten. In denen werden Argumente aneinandergereiht, dass die Künstlerin vielleicht gar nicht anders konnte, als so abzugehen. Darüber schrieb Veteranyi in „Warum das Kind in der Polenta kocht“ aus der Kinder-Perspektive – nur so konnte sie „alles Grausame und Unmoralische“ ihrer Geschichte erzählen und Formulierungen für den inneren Aufruhr finden. Der 1999 veröffentlichte Roman kam nun am Hessischen Landestheater Marburg als Koproduktion mit dem Royal District Theatre Tbilisi heraus.
Die tagebuchartige, dadaistisch angehauchte, auf der Grenze zur Lyrik balancierende Prosa wird von der Ich-Erzählerin getragen, außer der Mutter kommen kaum andere Figuren zu Wort, Dialoge gibt es nicht. Die wollte Schriftstellerin Nino Haratischwili als Regisseurin des Abends auch nicht nachträglich für ein klassisches Rollenspiel erfinden, zu groß ihr Respekt vor dem Werk. Und ein Monolog schien ihr wohl zu langweilig. So verteilt sie die Sätze auf sechs Sprecherinnen. Der so aufgefächerte Text passt ideal zu den naiv-altklug pointierten Beobachtungen, Erlebnissen, Aphorismen und Gefühlsbeschreibungen. Die autobiografisch rekonstruierende Hauptfigur zieht sich ein Kinderkostüm über und lauscht nun den mal chorisch, mal solistisch artikulierenden Vertreterinnen ihrer rumorenden Persönlichkeitsaspekte beziehungsweise Entwicklungsstufen – schon die Kapitel des Buches stehen für jeweils einen Lebensabschnitt vom Artistenkind mit Fluchterfahrung über die Heimabschiebung, das desolate Vagabundieren mit der alleinerziehenden Mutter, inklusive sexueller Übergriffe, bis zum Scheitern einer emanzipatorisch gemeinten Bewerbung fürs Schauspielstudium.
Der fragmentarisch eine inhaltliche Komplexität ermöglichende Stil Veteranyis erfährt mit der vielstimmigen Erzählerin eine physische Entsprechung, gleichzeitig wird in der Aufsplitterung der Figur auch ihre Verunsicherung deutlich – eine ruhelose Verlorenheit, ständig unterwegs als Zirkusfamilie am Rande der Gesellschaft. Was aber auch eine Flucht vor Festlegungen sein könnte. Vielleicht ein Versuch, sich von unrealisierbaren Ideen wie Heimat und Identität zu schützen.
Groteske Räume erkunden
Die Protagonistin ist jedenfalls geradezu Prototypin einer Migrantin, die weder in ihrer Wahlheimat Schweiz noch bei sich ankommt und immer wieder ins Imaginäre flüchtet – ein Abwehrzauber. Schon im Kleinkindalter verließ sie mit ihren Eltern das diktatorisch regierte, von der Geheimpolizei drangsalierte Rumänien. Ihre träumerischen Erinnerungen machen sich nur noch an den Gerüchen der Gerichte fest, die ihre Mutter kocht, und am Klang der Sprache. Wobei die drei Marburger Schauspielerinnen (neben Rausch noch Anke Hoffmann und Saskia Boden-Dilling) auf Deutsch, die drei Tibliser Gäste (Baia Dvalishvili, Nata Murvanidze und Anano Makharadze) auf Georgisch ihre Sätze gestalten. So lässt sich prima verdeutlichen, dass Mutter und Tochter vergeblich nach einer gemeinsamen Sprache suchen, sie selbst nach ihrer Sprache forscht in all den Sounds, die bei den europaweiten Tourneen ins Ghetto der Zirkuswohnwagenwelt dringen. Dort zerbröckelt auch die Scheinidylle der Familie, die von Angst, Gewalt, sexuellem und alkoholischem Missbrauch geprägt ist. Alle mit der Flucht verbundenen Hoffnungen erweisen sich als Selbstbetrug. „Mein Vater starb an Abwesenheit. Meine Mutter lebt in Ohnmacht … Und Kinder will ich keine“, lautet die Schlussfolgerung. Unstillbar brodelt auf der Bühne daher die Sehnsucht nach einem Ort, an dem sich das Zirkuskind wirklich einmal sicher mit der Wirklichkeit verbinden kann. Wovon ja auch Haratischwilis eigene Romane geprägt sind.
Beeindruckend wie sie mit den sechs Figuren in sechs für sie gestalteten Räumen (Bühne: Julia B. Nowikowa) – die Kinderheimszenen spielen beispielsweise in einer menschenfeindlichen Plastikblase – mit überbordendem Ideenfuror den Kurzszenenreigen auf einer Drehbühne inszeniert und mit welch großem Einfühlungsvermögen sowie gleichzeitig kluger Distanz die unterschiedlichen Perspektiven Veteranyis herausgearbeitet sind. Überzeugend auch die präzise Leidenschaft, mit der das Ensemble zwischen offiziellem Manegelächeln und privater Backstage-Tristesse agiert. Irritierend nur, dass immer mal wieder etwas zu schlicht illustriert wird. Ist vom vorgeburtlichen Leben im Bauch der Seiltänzerin-Mama die Rede, dehnt sich eine Darstellerin mit Embryomaske auf der Bühne, gibt sie die kindliche Nackttänzerin, gaffen und grapschen Gestalten in Schlachterkostümen mit Tiermasken nach ihr. Wird Gott als Totenesser erwähnt, pantomimen die Spielerinnen den Leichenschmaus.
Summa summarum wird der fragile Text überdreht zu satt groteskem, zunehmend verzweifeltem Theater voll surrealer Poesie und existenzieller Wut. Hält aber an den besonders schmerzhalten Momenten berührend inne. Etwa wenn sich die Ich-Figur wünscht, von zwei Männer „gleichzeitig vergewaltigt“ werden zu wollen, anders kann sie sich ihre Entjungferung nach den bisherigen Erfahrungen nicht vorstellen. Dann die Flucht aus dem Notausgang – woraufhin ein Großteil des Publikums ihren Premierenapplaus stehend spendiert.