Foto: Szene mit Andrè Schuen und Marlies Petersen © Monika Rittershaus
Text:Klaus Kalchschmid, am 15. September 2016
„Sein oder nicht Sein“ beginnt der vielleicht berühmteste Monolog der Theatergeschichte. Wer ihn als nahezu ausdrucksloses, aber artifizielles Madrigal für achtstimmigen gemischten Chor vertont, der sollte wissen, was er da tut. Sind das die inneren Stimmen Hamlets oder heißt dies, dass die einst bedeutungsvoll gewichtigen Worte ihren tieferen Sinn verloren haben?
Die vielfältigen Probleme von Anno Schreiers neuer Oper, soeben in Starbesetzung am Theater an der Wien uraufgeführt, liegen freilich nicht bei der Schwierigkeit einer Vertonung Shakespeares, sondern darin, dass Librettist Thomas Jonigk auf Shakespeare nahezu ganz verzichtet. Dafür greift er einerseits auf ganz alte Quellen – den vor 1237 entstandene „Gesta Danorum“, das dänische Nationalepos von Saxo Grammaticus, und François de Belleforests „Historique tragiques“ – zurück, will aber andererseits auch eine moderne Familientragödie erzählen. Doch diese fällt banaler und zynischer aus als jeder Tatort. Außerdem lässt er zwei seltsame Figuren auftreten, die als später Nachhall Shakespearescher Rüpelszenen über 400 Jahre hinweg ins 21. Jahrhundert geschwappt sind: Da ist zum Einen „Der tote Hamlet“, also der Vater Hamlets, der hier nicht als mahnender, furchteinflössender Geist auftritt, sondern ebenso putzmunter wie gelangweilt blasiert im beigen Anzug süffisante Sottisen von sich gibt und das Drama ebenso kommentiert wie das Kollektiv des exzellenten Arnold Schoenberg Chor. Es tritt hier als antiker Chor auf, anfangs in Kleidung der Shakespeare-Zeit, später in moderner Abendgarderobe, dann eigentümlich pastellfarben gekleidet, wobei die konventionellen Mittelklasse-Schnitte und edel schimmernden Stoffe seltsam quer zueinander stehen. Am Ende mahnt dieser Chor wieder in den Renaissance-Roben des Beginns.
Warum man für diesen sich pentrant ins Geschehen einmischenden, aber für alle unsichtbaren Vater Hamlets den legendären Countertenor Jochen Kowalski engagiert hat, wird nicht klar, denn er spricht den ganzen Abend – vornehmlich ins oder aus dem Publikum heraus. Das ist bei aller Kunst Kowalskis auf die Dauer ermüdend und wenig erhellend. Und dann ist da noch „Ein Pastor“ in Gestalt des exzellenten Tenors Kurt Streit, der in jedes Fettnäpfchen tritt und sich als nihilistischer erweist als alle anderen Figuren. Anno Schreier lässt ihn anfangs mit höhnisch gackernden Fagotten und später mit einer Persiflage auf Ravels „La Valse“ und die schrägen Walzer von Richard Strauss auftreten. Für einen kurzen Moment wünscht man sich da, Schreier hätte doch eine satirische Oper geschrieben, denn auch wenn der Komponist sich da mit fremden Federn schmückt, kommt doch etwas Farbe in eine Partitur, die im ersten Teil wie Trockenkost anmutete. Es ist eine Musik, die zusammengesetzt ist wie aus ausgestanzten Fertigteilen, sie ist papierern, wirkt in ihrer erweiterten Tonalität nur selten inspiriert, entwickelt kaum ein spezifisches Melos, eine klar kontrastierende Klanglichkeit oder deutet überhaupt die Szene auch nur ansatzweise. Da bräuchte kein Experte für zeitgenössische Musik wie Michael Boder am Pult des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien stehen, weil alles Feilen und Polieren, jeglicher Versuch plastisch und lebendig zu artikulieren, zum Scheitern verurteilt sind.
Das ist auch die große Gefahr für den jungen Andrè Schuen, der am selben Ort immerhin schon Graf, Don Giovanni und Guglielmo unter Nikolaus Harnoncourt gesungen hat. Er sieht im weißen T-Shirt über zerschlissener Jeans mit zum Dutt gebundenen Haaren aus, wie sich heute junge Männer unter 25 kleiden, und weiß als Hamlet nicht so recht, was für eine Figur er eigentlich darstellt. Zu diffus und banal sind da Text und Musik, zu wenig darf er in Monologen reflektieren, stattdessen bäumt er sich auf und reagiert, protestiert oder jammert, um gleich wieder in sich zusammenzufallen. Dass ihn mit seiner Mutter eine erotische Hass-Liebe verbindet, thematisiert die Oper immer wieder, und weil diese Mutter, die den Schwager heiratet, aber viel lieber den Sohn ganz für sich – und im Bett hätte, und weil diese Mutter von der wunderbaren Marlies Petersen gesungen und gespielt wird, haben diese Szenen eine verbüffend solitäre Intensität. Man sieht und hört bei dieser Frau mit ihrem hohen und doch so gehaltvoll strahlend-strengen Sopran in jeder Phrase, was in ihrem Kopf abgeht. Man sieht es an ihrer Mimik und Körperhaltung, man hört es an der Färbung einzelner Töne, an ihren Phrasierungen oder an der (Leucht-)Kraft der Ausbrüche in der Höhe. Da kann Schuen nicht ganz mithalten, denn so sicher er sich mit seinem schönen Bariton in den Noten bewegt, so wenig erfahren wir, was in ihm vorgeht. Dennoch sind es berührende Momente, wenn die beiden sich näherkommen, wenn Hamlet zärtlich das Kleid seiner Mutter hinten zuknöpft und liebevoll den Kragen richtet.
Auch die Szenen mit Ophelia, hier eine gekaufte Prostituierte, die nicht – wie in den Vorlagen – Hamlets gespielten Wahnsinn entlarven, sondern ihn einfach nur ruhigstellen soll, haben einen gewissen Reiz. Denn die Mezzosopranistin Theresa Kronthaler spielt im engen, grauen Kostüm und High Heels eine junge Sekretärin, für die der Dienst am Chef auch unterhalb der Hüfte zum Geschäft gehört und die sich schon der alte Hamlet und Claudius genommen haben. Dass sich Hamlet und sie ineinander verlieben, war so nicht geplant und wird leider auch weder von Text und Musik noch von der zurückhaltenden Regie Christof Loys in einem von geschmackvoll einfarbigen Blumentapeten bestimmten Einheitsraum (Johannes Leiacker) beglaubigt, denn die beim Lesen des Textes überraschenden zart-komischen Momente verpuffen. Dafür dürfen beide ein veritables Liebesduett singen, das entsprechenden lange instrumental nachhallt. Auch ein großes Quartett am Ende des ersten Teils bündelt wie selten die musikalischen Kräfte und zeigt Ophelia, Hamlet, Gertrud und Claudius unheilbar emotional verstrickt. Bo Skovhus ist dieser König Claudius, dem man den Karrieristen genauso wenig abnimmt, wie den der Schwägerin sexuell Hörigen, der schließlich Ophelia und Hamlet ermordert. Am Ende steht ein zynisches Finale, in der die Neuankunft eines Thronfolgers gefeiert wird, der den Namen Hamlets tragen und ihn ersetzen wird.