Foto: Florian Gerteis, Jenny Langner, Thomas Prazak und Ute Fiedler in "Wittgensteins Mätresse" am Staatstheater Augsburg © Jan-Pieter Fuhr
Text:Tobias Hell, am 26. November 2022
Die Pandemie hat einiges vorangetrieben. Nicht nur was das flexible Arbeiten in den eigenen vier Wänden angeht. Auch am Theater sind digitale Projekte auf einem guten Weg, sich zu einer eigenen Sparte zu entwickeln. Vorn mit dabei ist hier schon lange das Staatstheater Augsburg, dessen Publikum bei der Einführung zu „Wittgensteins Mätresse“ zum großen Teil bereits routiniert abwinkt, als ihm die Verwendung der VR-Brillen erklärt wird. Der Reiz des Neuen ist hier offenbar fast schon zur neuen Realität geworden. Und so wurde im Anschluss an die Premiere, weniger über die Technik an sich diskutiert, als vielmehr darüber, wie sie nun an diesem Abend in der atmosphärisch dichten Inszenierung von Nicole Schneiderbauer eingesetzt wurde.
Was bei anderen Stoffen zuweilen als bloßes Gimmick abgehakt werden kann, passt bei dieser vom Ensemble kollektiv erarbeiteten Dramatisierung von David Marksons gleichnamigem Roman tatsächlich wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Die Flucht in virtuelle Welten, in denen sich physikalische Grenzen auf Knopfdruck aushebeln lassen, scheint wie gemacht für die Geschichte der Künstlerin Kate, in deren Selbstgesprächen die Realitätsebenen immer wieder verschwimmen.
Kate, die sich für den letzten Menschen auf Erden hält, sitzt allein in einem Strandhaus und träumt sich in ihrer Einsamkeit durch die großen Epen der Literarturgeschichte, phantasiert von Meisterwerken der klassischen Musik oder bildenden Kunst und reflektiert dazu über das eigene, von Verlusten geprägte Leben.
Ein Monolog für fünf
Der Titel führt dabei durchaus beabsichtigt in die Irre. Denn Wittgensteins Name findet hier lediglich in einer kurzen Episode am Ende Erwähnung. Und dass Frauen im Leben des Philosophen keine allzu große Rolle spielten, ist bekannt sein. Doch diese scheinbare Beliebigkeit passt zu den teils wirren Gedankengängen der Protagonistin, deren innere Stimmen in dieser szenischen Umsetzung auf fünf Personen verteilt sind. Mann und Frau, Alt und Jung. Auch hier verschwimmen Grenzen, werden seelische Konflikte als hitzige Dialoge ausgefochten, rational diskutiert oder als letztlich unbeantwortete Fragen in den Raum gestellt.
Eine Herausforderung, die vom Augsburger Schauspielensemble höchst virtuos absolviert wird. Etwa von Florian Gerteis, der mit jugendlichem Elan die Energiekurve nach oben treibt, in einem anrührenden Moment aber ebenfalls zur Verkörperung des verstorbenen Sohnes mutiert. Oder Jenny Langner, die für mehrere skurril komische Episoden sorgt, während Thomas Prazak mit Ehrfurcht gebietender Präsenz immer wieder Bruchstücke der Realität aufblitzen lässt und selbst stumm einen starken Spielpartner für sein jeweiliges Gegenüber abgibt. Für die nachdenklichen inneren Monologe sind dagegen meist eher Ute Fiedler und Andrej Kaminsky zuständig, die damit das vielfach gebrochene Kaleidoskop von Kates Seele zumindest kurzzeitig ins Gleichgewicht bringen. Unterstützt wird die sensible Textbehandlung da zusätzlich durch Mikroports, deren Ton dem Publikum via Knopf in Ohr geliefert wird und dem Ensemble erlaubt auch im hintersten Winkel neben klassischer pathosgeschwängerter Deklamation auch mit leisen Tönen zu arbeiten.
Ausstatterin Miriam Busch hat dem Quintett dafür einen Spielraum geschaffen, der den nüchtern industriellen Charme des Kühlergebäudes im alten Gaswerk aufgreift und von Marco Vitale immer wieder in stimmungsvolles Licht getaucht wird.
Aus Fenster-, Tür- und Bilderrahmen wurde da ein multifunktionales Klettergerüst zusammengeschraubt, das einerseits Kates Haus andeutet, gleichzeitig aber auch als Tor zu den virtuellen Räumen dient, die Stefanie Sixt erschaffen hat. Sequenzen, in denen das auf Drehhockern im Saal verteilte Publikum von Flammen umschlungen wird, sich in kreisenden Globen wiederfindet oder Kates Spuren im Sand nachspürt. Wobei dieses Stilmittel zum Glück nicht inflationär eingesetzt wird und am Ende das solide Schauspielhandwerk dominiert.
Dass die Übertragung am Ende abreißt und in manchen VR-Brillen nur noch das Hilfe suchende „searching“ blinkt, könnte da fast Absicht sein. Und wenn nicht, dann auf jeden Fall der Beweis, dass dieses Ensemble sich trotz aller technischer Innovationen auch in der analogen Welt immer noch äußerst souverän zurechtfindet.