Foto: Szene aus „Der Vampyr” mit Oana Solomon und Michael Kupfer-Radecky. © Sandra Then
Text:Roland H. Dippel, am 26. März 2022
In Hannover finalisierte Ersan Mondtag nach „Antikrist“ in der Deutschen Oper Berlin und „Freischütz“ in Kassel seine retro-metaphysische Operneinsteiger-Trilogie. Etwas mehr Tiefgang als die satirisch-groteske Lesart von Ruedi Langgaards Esoterik-Oper und das psychopathologische Klimawandel-Agitprop zu Webers Wolfsschlucht hatte „Der Vampyr“. Vom erfreulich jungen Premierenpublikum wurde das Mondtag-Event bejubelt wie die „Rocky Horror Show“. Es fehlten nur die Eiswürfel für noch mehr Schreckensschauer in Mondtags furioser Schwarzer (Erdöl-)Messe.
Für die einen ist Heinrich Marschners gar nicht so selten gespielte „Große romantische Oper“ nach der neben Lord Byron und Mary Shelleys erdachten Novelle William Polidoris der wichtigste Opernromantik-Monolith zwischen Weber und Wagner, für andere ein blässliches Biedermeier-Produkt. Das spiegelt sich in der Aufführungsgeschichte mit drastischer Polarität. Antú Romero Nunes machte aus dem „Vampyr“ 2016 an der Komischen Oper Berlin eine monochrome Geisterbahn, bei der kein Werkbaustein auf dem anderen blieb. Andere Kleinmeister der theatralen Kieferchirurgie zogen dem Sangesbruder von „Don Giovanni“ und „Der fliegende Holländer“ erfolgreichst die spitzen Zähne. So wurde Marschners kompositorische Fantasie gezähmt und ihr das Potenzial entzogen, was sie hat. Hans Pfitzner leistete 1896 ein folgenreiches Verschlimmbesserungswerk, indem er in seiner Bearbeitung alle virtuosen Italianismen eliminierte und damit den „Vampyr“ für das ganze 20. Jahrhundert banalisierte, bis sich Hof und Koblenz an die Originalfassung erinnerten.
Eine Bilderüberflut
Ersan Mondtags Inszenierung in Hannover war nach Pier Luigi Pizzis eleganter Deutung in Bologna seit vielen Jahrzehnten die erste „Vampyr“-Produktion an einem großen Haus. Das hätte Potenzial für einen Befreiungsschlag aus der Rezeptionsschieflage haben können. Aber wieder einmal präsentierte Mondtag sein immenses kulturgeschichtliches und esoterisches Wissen mit szenischem Raubbau. Der Abend zerfledderte in Bilderüberflut wegen Mondtags Misstrauen gegen konzentrierte Stille und leise Worte ohne Mikroport. Gewalttritte aufs Regie-Gaspedal, bei der die dramaturgische Verkehrspolizei zu Mitlaufenden wurde.
Warum will Mondtag eigentlich nicht Illustrator werden? Vor der zertrümmerten Hannoveraner Synagoge tummeln sich bei ihm in den Kostümen von Josa Marx Geister, Nachtmahre und alle „Schutzengel der Hölle“ mit dem gesamten Zeichenapparat von Gustave Doré, HR Giger, Breughel, William Blake. Dieses Ambiente ist bildgewaltig und verrückt – im besten Sinn. Auf einem Schuttberg begegnen sich der ,ewige Jude‘ Ahasver (Jonas Grundner-Culemann), die babylonische Große Mutter Astarte (Oana Solomon) und der aparte Titelheld Lord Ruthwen – der bleiche Mann trägt Ohrstecker, Ringe und weiße Schlagärmel. Über diesen symbolischen Schuttberg, den Opfer und Schlachtende abwechselnd betrampeln, ist im zweiten Teil endlich Gras gewachsen. Dann tummelt sich vor „Braunschweigs Shopping-Adresse Nr.1“ hinter den belassenen Schlossarkaden eine Gesellschaft in schwarzen Ölklamotten. Wissensquiz ahoi! Till Briegleb hat für Mondtag viel Gebildetes in die Dialoge hineingeschrieben – Event und Kulturvermittlung würden nahezu ineinander aufgehen, wenn nicht alles so elliptisch und fragmentarisch wäre. Die Wertminderung durch Wühltisch-Massenangebote der Spitzen und Zeichen funktionieren nachhaltig.
Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover zuvorderst und auch der satt-grob-hymnische Chor der Staatsoper (Bravo, Lorenzo Da Rio!) erbringen die längst fällige Marschner-Apotheose: Stephan Zilias beginnt beginnt ‚voll normal‘. Und er weiß, dass man die musikalischen Scharniere der Schauerromantik manchmal verstecken muss. Fahle Streicher, bizarre Klarinetten-Töne und Unebenheiten schleichen sich in die Ouvertüre – bewusst beiläufig und deshalb erst recht unüberhörbar. All das, wo Marschner Webers „Freischütz“ weiterdenkt und doch nicht übertrifft, gewinnt Hoffmanneske Doppelgründigkeit, Biss haben das Brio und die Virtuosität Malvinas. Mercedes Arcuri gibt in Designer-Leggins und voll blond eine Stadttheater-Diva von altem Schlag. Norman Reinhardt bleibt als Ghosthunter mit VW-Käfer und als Ruthwens Gutmensch-Kontrahent Aubry etwas blässlich, sogar in seinen Romanzenstrophen. Zilias macht das Mysterium, als dessen nächste Station Mondtag durchaus nach Oberammergau passen könnte, zum Musiktheater der Spitzenklasse.
Kalauer-Allzweckmittel: Benny Claessens
Mondtag weiß, dass zum Sakralspiel der Narr gehört. Der kommt als zeitgenössisches Fashion Victim und queere Wolke in Pink in Gestalt von Mondtags vielfach bewährtem Kalauer-Allzweckmittel: Benny Claessens balanciert unter einem enormen, auch selbstbewussten Publikumszuspruch wagemutig auf dem Trapez zwischen RTL-Witzchen und artistischem Queer-Bashing. Eine Shakespearesche Narrendimension kommt damit nicht ins Stück. Wohl aber plättet Mondtag seinen starken Beginn mit antipatriarchaler Vampyrmeisterin im Amazonenpanzer und einem Ahasver aus der Nazarenermalerei ins zünftig Bodenständige. Claessens‘ – er ist der Pumuckl der Mondtag-Shows – versenkt gemütvoll Frivoles über „sexistische Oper“ und Co. selbst am besten. Ohne die Leistung des Orchesters wäre „Der Vampyr“ also trotz starkem Beginns ein weiteres Mal kaputt, kaputt, kaputt. Daran ändern die vier Saufschwestern in Goldkleidern bei Marschners populärer Trinklied-Einlage vor dem letzten Biss wenig (Pawel Brozek, Peter O’Reilly, Darwin Prakash, Markus Suihkonen).
Wenn es auf die ausdrucksstarke Engführung von Persönlichkeit, Inhalt und Intensität ankommt, lässt Mondtag sein Ensemble fast immer im Stich. Das merkt man sofort, wenn Kostüm und Posen nicht alles sein kann, etwa bei Waronika Rabeks Suse-Couplets und vor allem bei der Emmy von Nikki Treurniet. Die Ballade vom „bleichen Mann“, womit Marschner Wagner den Kreativkick zum Geniewurf von Sentas Holländer-Ballade zuwirft, singt Treurniet tendenziell uninspiriert.
Zufälligerweise stehen der Ölmogul Sir Humphrey (vitaler Singdarsteller von prächtigem Format: Shavleg Armasi) und der Vampyr an der Kapelle wie dunkle und helle Figur an der Wetteruhr. Michael Kupfer-Radecky verdichtet Mondtags salopp wie famos erdachten Vampyr mit der verhaltenen und porösen Glut des Schubert-Kenners, bereichert die Figur faszinierend und beklemmend wie einen tief gefallenen Engel. Kupfer-Radeckys Vampyr weiß neben Zilias und Marschner als einziger an diesem Premierenabend, was es wirklich heißt, „wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft.“.