Foto: Fritzi Haberlandt und Andre Jung © Thomas Aurin
Text:Andreas Jüttner, am 11. März 2016
Als wäre er nie weg gewesen: Sechs Jahre lang hat Jossi Wieler, zwischen 1994 und 2005 immerhin drei Mal Gast beim Theatertreffen, kein Schauspiel mehr inszeniert. Nun bringt der scheidende Stuttgarter Operintendant einen neuen Text seines gerade vertragsverlängerten Schauspielkollegen Armin Petras (alias Fritz Kater) auf die Bühne – und der gut zweistündige Abend ruft sofort in Erinnerung, warum Wieler stets als „sanfter Ausleuchter“ von Texten galt, der eher auf ausgefeiltes Sprechen als auf Bühnenaktion setzt.
Ums Erinnern geht es auch in dem Stück, dessen zentrale Figur Maibom im Krieg polnisch-jüdischer Bomberpilot war und in den 50er-Jahren Reporter und Nazi-Jäger ist. Die zentrale Handlung ist sein Finden und Verlieren der Liebe in Person von Rieke, mit der er sieben Jahre zusammenlebt und 1960 kurz vor der Heirat steht, bevor ihm ihr abruptes Verschwinden vor Augen führt, dass er sie in Wahrheit gar nicht gekannt hat. Fritz Katers Text „I’m searching for I.N.R.I. (eine Kriegsfuge)“ befasst sich in 13 Kapiteln, die zwischen den Jahren 1941, 1949, 1959/60 und 1989 springen, mit dem Ringen um die Wahrheit, auf die sich Gewinner und Verlierer nie einigen können, und vom Verdrängen, das der nackte Überlebenskampf mit sich bringt – bis zum Verleugnen der eigenen Identität. „heilung von wunden“, bellt André Jung als alter Maibom des Jahres 1989, „geschieht einzig und allein durch vergessen“. Woran er umso mehr verzweifelt, weil er einfach nicht vergessen kann.
So wie Fritz Kater auf das bewährte Mittel des elliptischen Erzähltheaters setzt, bleibt Wieler seinem Ruf als bis aufs Komma genauer Textarrangeur treu – ganz im Gegensatz zu Petras selbst, der als Regisseur das eigene Schreiben mitunter als Steinbruch für Spielideen nutzt. Wieler konzentriert sich auf nuanciertes Sprechschauspiel, was bei Kalibern wie André Jung und Fritzi Haberlandt durchaus durch die zwei Stunden trägt. Mag Haberlandt auch die innere Verkrampfung Riekes mitunter etwas überdeutlich externalisieren in thalheimeresken Tics wie Selbstumklammerung und Kratzanfällen – sowohl der undurchschaubare Lebenstrotz als auch die Physiognomie der 17-Jährigen im Kriegsjahr 1941 („ihre arme kahle zweige“) scheinen ihr auf den spirreligen Leib geschrieben. Wobei die zitierte Formulierung gar nicht originär von Kater stammt, sondern von Anna Seghers entlehnt ist. Denn der Text bezieht sich auf literarische und filmische Erzählungen der Kriegs- und Nachkriegszeit, was Wieler wiederum durch den Einsatz von Video im Schwarzweiß-Look reflektiert und auch die parodistischen Elemente des Textes aufgreift, wenn die Story in einen Entführungskrimi zu kippen scheint und die Beteiligten in Film-Noir-Beleuchtung übertrieben bedeutungsschwer in die Kamera gucken.
So respekteinflößend dabei auch die Performance von André Jung ist, der vom dezenten Kammerspielton über joviales Krisenreporterplaudern („aufstände und revolutionen lieben die deutschen wenn sie dabei zuhause bleiben können / und mindestens 1000 kilometer entfernt sind“) und die raunende Eddie-Caution-Parodie bis zum Offenlegen von Maiboms eigener Lebenslüge alle Register großen Sprechhandwerks zieht (von der immensen Textmenge gar nicht zu reden), so wenig dringlich scheint der Abend hier und jetzt. Freilich: Dass einem die Staaten, Erzählungen und Zustände, um die der Text kreist, befremdlich fern scheinen (selbst der Auftritt eines jungen DDR-Flüchtlings 1989, virtuos verunsichert gespielt von Matti Krause, wirkt wie aus versunkener Zeit), bestätigt wohl Maiboms Überzeugung von der Heilung durch Vergessen. Was dann doch zu denken gibt, weil daraus sein Geschichtspessimismus folgt: „wieder mal ein umsturz / ein zwei jahre aufregung / und dann wird alles wie immer sein“.