Youri Vámos' Ballett "Dornröschen - Die letzte Zarentochter" in Karlsruhe

Zarenballett

Youri Vámos: Dornröschen - Die letzte Zarentochter

Theater:Badisches Staatstheater Karlsruhe, Premiere:16.11.2013Musikalische Leitung:Christoph Gedschold/Steven MooreKomponist(in):Peter I. Tschaikowski

Die Tanzbühne zeigt keine böse und keine gute Fee, keine Prinzessin Aurora, die sich beim Spiel mit der Spinnrocken-Spindel sticht. Dafür eine verstörte, vor den Wirren der Russischen Oktoberrevolution nach Berlin flüchtende Anastasia, die behauptet, das einzig überlebende Kind von Zar Nikolaus II. zu sein.

Birgit Keil hat ein Faible für den Handlungsballett-Geschichtenerzähler Youri Vámos. Zum dritten Mal – nach „Ein Sommernachtstraum“ und „Der Nussknacker“ – hat die Karlsruher Ballettchefin den ungarischen Meisterchoreographen in ihr Haus eingeladen, um eine seiner Ballettklassiker-Versionen vorzustellen. Nun also das 1993 in Basel uraufgeführte „Dornröschen“. Freilich fügte Vámos dem Tschaikowski-Ballett den gewichtigen Untertitel „Die letzte Zarentochter“ hinzu, um klarzustellen, dass er nicht wie Marius Petipa das Perrault-Märchen von der hundert Jahre „schlafenden Schönen“, sondern einen historischen Fall erzählen will. Und seine Inszenierungs-Idee, das Glanzstück des zaristischen Balletts umzuformen und auf die Zaren-Dynastie selbst zu projizieren, ist jedenfalls originell. Man sieht auf der anfangs nachtdunkel-nebelgrau gehaltenen Bühne in einem Lichtschein Schattenrisse eines soldatesken Erschießungskommandos und die sterbende Zaren-Familie. Die düstere Szenerie scheint einem Schwarzweiß-Stummfilm Eisensteins entlehnt.

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Seit Birgit Keil die Karlsruher Compagnie vorwiegend klassisch ausgerichtet leitet, sind Ballettpremieren in der badischen Metropole enthusiastisch gestimmte Ereignisse. Und natürlich kommt das Publikum nicht, um November-Tristesse zu zelebrieren. Man will getanzten Märchenzauber in romantischen Bühnenbildern erleben. Solchen Wünschen verweigern sich die Vámos-Choreographie und Ausstatter Michael Scott keinesfalls. Denn beklemmend wirkt nur die Rahmenhandlung. Über Anastasias Vergangenheits-Sehnsuchtsglück werden traditionelle Petipa-Versatzstücke und balletteuse Highlights – allenfalls verändert und im Handlungsablauf umgestellt – durch die Erinnerungstür wieder eingeführt und mit glamourösem Zarenhof-Ambiente ausgeschmückt.

Da gibt es Anatasias Kindergeburtstagsfeier (mit der quirligen Sabrina Velloso), den Schwestern und ihren Geschenken, (wobei die Hüpfseil-Szene noch nachgeübt werden sollte). Zusätzliche Geburtagsgaben sind zwei Katzen (Blythe Newman und Arman Aslizadyan), die es in anzüglich feiner Tanzartistik miteinander treiben, sowie vom bluterkranken kleinen Bruder Alexei ein blauer Vogel. Auch tanzt das in Bleu antretende Zarenballett. Im Rosenadagio, das mit prächtigen Kostümen und einem Rosengirlanden-Gitter im floral umkränzten Park seinem Namen alle Ehre macht, werben nicht mehr adelige Prinzen um die inzwischen erwachsene (Dornröschen-)Anastasia (Bruna Andrade). Vielmehr stellt sie ihrer Familie einen schwarz gekleideten Unbekannten (den grandios tanzenden Admill Kuyler) als ihren Partner vor. Begeistert und begeisternd demonstriert Alexei (Flavio Salamanka) einen zackig-rasanten Solotanz, das Liebespaar seinerseits den ersten Pas de deux mit triumphierenden Hebefiguren und mehreren Soli. Ein Kinder-Ensemble verzaubert mit diagonaler Präsentation. Der große Dornröschen-Walzer führt 12 Paare auf die Bühne. (Dabei erreicht Andrade leider nicht die technische Perfektion der Joyce Cuoco, die in Basel als Anastasia mit bombensicheren Balancen auf der Spitze brillierte.)

Nach der Pause folgt noch einmal eine prunkende Zaren-Gala, die sich durch berauschende Eleganz der Sprungfolgen und Bilderbuch-Poissons sowie allerhand bunte Divertissements auszeichnet. Darunter das großartige Duo der blauen Vögel (Sabrina Velloso und Pablo Dos Santos): Er schnellt mit sprungfederleichten, im Flug in der Taille abwinkelnden assamblés grands wie weiland Nijinski in die Höhe, sie schmeichelt in rhythmisch akzentuierter Figuration mit ihrem Mädchen-Charme. Alle diese Schönheiten werden von Kapellmeister Christoph Gedschold am Pult und der Badischen Staatskapelle im Orchestergraben einfühlsam punktgenau mit der Tschaikowski-Ballettmusik unterlegt.
„Der Tod und das Mädchen“-Ausklang – von ihrem Partner schützend umarmt, stirbt die letzte Zarentochter – überwältigt die märchenhaften Tableaus nicht: „Sollst sanft in meinen Armen schlafen“!