"Neue Stücke 2015"

Zaghafter Neubeginn

Theo Clinkard, Cecilia Bengolea/François Chaignaud, Tim Etchells: Neue Stücke 2015

Theater:Tanztheater Wuppertal, Premiere:18.09.2015 (UA)

Leitern stehen auf der leeren Bühne, Techniker testen die Nebelmaschine, Tänzer finden sich in Paaren oder stürmen als Gruppe voran. Mal sind Fäuste hochgereckt, mal befindet sich das Ensemble im freien Fall. Hier sieht man Kontaktimprovisation, dort besprechen sich zwei. Alles wirkt irgendwie zusammengewürfelt und roh, als sei dies keine lang ersehnte Uraufführung von Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater, sondern eine Probe, in der niemand so recht weiß, wohin dies alles führen soll.  

 

Sechs Jahre hat es gedauert, bis das Tanztheater Wuppertal es wagte, ein neues Stück ohne Pina Bausch herauszubringen. Jetzt teilen sich vier – größtenteils unbekannte – Choreographen die Verantwortung. Theo Clinkard, der den dreiteiligen Abend „Neue Stücke 2015“ mit „somewhat still when seen from above“ (etwas Unbewegtes, wenn man es von oben betrachtet) eröffnete, ist als Choreograph auch in seiner Heimat Großbritannien noch ein recht unbeschriebenes Blatt. Im  Wuppertaler Opernhaus stellt er seine erste Auftragsarbeit für eine professionelle Tanzkompanie vor und gibt sich entsprechend vorsichtig. Etwa, wenn er die erfahrene Bausch-Tänzerin Aida Vainieri auf den jungen Ermis Ça?da? treffen lässt. Zur türkischen Folklore (Musik: Selda Ba?can) nähern sich die zwei sachte einander an, als begegneten sich Vergangenheit und Zukunft. Der Jüngere faltet die Hände andächtig vor der Brust – Ehrfurcht vor der großen Aufgabe, das legendäre Tanztheater zu gestalten?  Verständlich. Etwas mehr Mut hätte dennoch gut getan. 

 

Das zweite Stück des Abends, „The Lighters Dancehall Polyphony“ (Die Feuerzeug-Dancehall-Polyphonie), ist das choreographisch eindrucksvollste. Zu Klängen, die von Renaissance-Chorälen über jamaikanische Dancehallmusik bis hin zu sudanesischer Volksmusik reichen, zeigt das Ensemble einen spannenden Mix aus zeitgenössischem wie klassischem Tanz, junger, athletischer Clubkultur und Volkstanz ähnlicher Choreografie. Herausragend ist Nayoung Kim als moderne wie auch Ditta Miranda Jasjfi als traditionelle Tänzerin.   

In Kontrast zur Gegenwart stehen Szenen vor einer schweren Metallwand, wenn das Ensemble im Kerzenschein singend, Abschied von der Vergangenheit nimmt. Frauen tanzen Ringelrein, ein Mann mit Halskrause und Strapsen tritt auf, ein anderer trägt einen rosa Ballettanzug. Kuriose, groteske Gestalten, die für manch komischen Moment sorgen, wie überhaupt das ganze Potpourri verschiedenster Tanzstile. Alles ist möglich, scheinen Cecilia Bengolea und François Chaignaud mit ihrem Stück sagen zu wollen, das ohne stringente Dramaturgie auskommt. Eine fragmentarisch anmutende, originelle Produktion. 

 

Den dritten und längsten Teil des Abends bestreitet Tim Etchells mit „In Terms of Time“ (Unter den Bedingungen der Zeit). Etchells, als Leiter der bekannten britischen Experimentaltheater-Kompanie „Forced Entertainment“ meist textbasiert arbeitend, lässt die Tänzer hier nur eins sagen: „Thank you“. Am Anfang bedankt sich die charismatische Nazareth Panadero noch freundlich beim Publikum nach einem Spielchen mit Wasser im Glas, am Ende tönt das „Thank you“ auch aggressiv. Dazwischen gibt es bemerkenswerte, temporeiche Momente mit gestapelten, fallenden Plastikbechern auf die, wie nach einer Party, der „Kater“ folgt, wenn Tänzer leere Plastiksäcke stapeln oder Luftpolster einer Schutzfolie mit leisem Knacken zerdrücken. Die schöne, große Vergangenheit, sie erscheint doch immer noch als Bürde, auch nach sechs Jahren…