„Auf einmal war sie weg“, so beginnt das Stück. Weg war die Farbe Blau, Assoziationsbegriff für verlorene lesbische Liebe, für Kindheits- und Körperunschuld. Leonie Lorena Wyss entführt das Publikum in die Jugend ihrer Generation, die der 90er-Kinder. Schon bald fällt die Anlehnung des Stücktitels an den 2013 erschienen franzöischen Film „La vie d’Adèle“ (deutsch „Blau ist eine warme Farbe“) mit Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos in den Hauptrollen auf, der in Cannes die Goldene Palme gewann: Die 15-jährige Adèle beginnt, ihre Sexualität zu entdecken, verliebt sich in die ältere Kunststudentin Emma mit kurzen, blau gefärbten Haaren. Die beiden beginnen eine Beziehung, die verschiedene Herausforderungen aber nicht übersteht.
Queerer Lebensentwurf nicht-existent
Im Sinne einer Blaupause sind Kostüme und Bühnenbild gestaltet. Alles ist Vorlage für etwas Unkonkretes, noch Unfertiges. Alles ist durchsichtig und ein bisschen blau, noch nicht ganz greifbar, noch in der Entdeckungsphase. Wie könnte ein queerer Lebensentwurf aussehen? Die Schauspieler:innen tragen kurzärmlige und -beinige Jumpsuits aus durchscheinendem Stoff. Auf der Bühne hängen duchsichtige Vorhänge in einem Kreis, durch die sich Stühle und noch nicht genau erkennbare Skulpturen andeuten (Kostüme und Bühne: Laura Immler). Bei Eintritt des Publikums tasten sich die Darstellerinnen (Esra Schreier, Katharina Ley, Katharina Uhland, Julia Staufer) fragend um diesen Vorhangkreis herum.
Blau ist weg, da fehlt was, da fehlt die breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Queerness. Und gleichzeitig ist da der schambehaftete Umgang mit Sexualität überhaupt, wenn die Mama im Supermarkt rot wird und lacht, weil das Kind die Kondome für Kaugummis mit Wassermelonengeschmack hält. Da ist immer diese steife, familiäre Kaffee- und Kuchenrunde, Küsschen rechts, Küsschen links. Und dann die immergleichen Fragen: Was macht das Leben? Aber vor allem: was macht der – dramatische Pause – FREUND? Alle schauen gespannt. Hat sie etwa einen Freund, die Tanja? Hat sie, und beim nächsten Treffen ist er auch dabei. Sebastian (Jeremy Heiß), der Prototyp des „Freundes“, steht da wie Tarzan, wird auf Muskeln und Männlichkeit begutachtet. Das Verliebtsein und die spätere Beziehung des erzählerischen, weiblichen „Ich“ mit einer Frau wirkt wie ein nicht passendes Puzzleteil in die konventionellen Gepflogenheiten dieses heteronormativen Familienanlasses.
Ein „Ich“ zum „Du“
Leonie Lorena Wyss‘ Sprache ist voller Assoziationsbilder, die durch das Stück hindurch immer weiter gesteigert und verwebt werden. Das beginnt bei Blau als nicht mehr wahrnehmbarer Farbe für das Unverständnis oder noch-nicht-Entdecken (queerer) Körper- und Identitätsbilder, und geht zu Kräuterbrot, aus dem die Creme beim Familienessen bis aufs Letzte ausgeleckt wird, geht zur Konsistenz von stückiger Steinpilzsuppe im Mund, die zu runzligen Steinpilzfalten steifer Brustwarzen wird.
Hinter den gefallenen Vorhängen enthüllen sich Körperstücke: Hände, eine untere Gesichtshälfte mit Mund. „Hätte ich gewusst, dass es dich nur gibt, wenn was bricht“ – das kann hier die zerbrochene Liebe im Stück sein, kann aber auch darauf hinweisen, dass aus dem alten, an gesellschaftlich vorgelegte Lebensschablonen angelehnten „Ich“ der Erzählfigur in Auseinandersetzung mit der eigenen Identität im Selbstdialog nur ein neues „Du“ werden kann, wenn diese Muster aufgebrochen werden. Wenn ein neu zusammengesetztes Körperbild entstehen kann, weg von etablierten Stereotypen.
Leonie Lorena Wyss geht es inhaltlich nicht nur um sexuelle und romantische Orientierung, auch um Schönheitsideale, darum, wie Germanys Next Top Model eine Generation geprägt hat und wie sich natürlich dann alle zur Wespentaille runterhungern wollten. Aus dem vielerorts humorgeladenen Text schälen sich hier schmerzhafte Themen. Gewalt gegen Körper findet nicht immer so offensichtlich statt, ist oftmals gerade auch ein innerer, einsamer Kampf.
Das Ensemble wirft sich den poetischen Text wie Fragmente gegenseitig zu, das alles sitzt wie eine gut einstudierte Choreografie. Wo das Publikum anfangs noch oft lacht, verebbt dieses gegen Ende immer mehr. Die Assoziationsbilder werden unklarer, bruchstückhafter, vielleicht auch als gedachter Ist-Zustand der Erzählfigur, die sich selbst im neuen Körperbild finden möchte. Das tut sie schließlich auch – der Bogen dorthin wird in der Inszenierung nicht ganz klar – aber durch Loslassen klassisch-gesellschaftlicher Identitätszuschreibungen scheint es zu gelingen, wenn es schließlich heißt: „Wir holen Luft, und dann auf einmal Blau, das uns umgibt.“