Foto: Schnee im Wuppertaler „Zauberberg“ © Jakob Schnetz
Text:Detlev Baur, am 22. Mai 2023
Thomas Manns in jeder Beziehung großer Roman sorgt am Wuppertaler Theater am Engelsgarten für viel Bühnenschnee, Kreisen der Drehbühne und Gedanken über den Wert von Zeit und Gesundheit. Das ist gekonnt inszeniert und gespielt und dabei nicht wirklich zauberhaft.
Wuppertal liegt zwar im Bergischen, ist (trotz Schwebebahn und freikirchlicher Vergangenheit) dennoch von Industrie und Geschäftigkeit geprägt; die Stadt dürfte damit für die Menschen im Davoser Sanatorium „Berghof“, in dem der an sich eher mediokre Hans Castorp, Held des „Zauberberg“, statt drei Wochen sieben intensive Jahre von Gleichförmigkeit, Krankheit und Gedankenflügen verbringt, also eher zur „Welt da drunten“ gehören. Das Institut, in dem Castorp seinen kranken Cousin besucht, erweist sich bald als ganz eigener Ort, das den Hamburger Jung-Ingenieur fasziniert. Der Roman verbindet einen Bildungsroman mit farbigen Figurenporträts aus dem Umfeld des jungen Naiven und nutzt all dies, um einen zeitphilosophischen Kosmos aufzuspannen.
Geführt durch das Seitengestöber
Das ist für einen Theaterabend eine enorme Vorgabe, die nicht nur Striche erfordert, sondern auch eine Zuspitzung des Panoramas. Rebekka Biener startet in der Hauptrolle assistiert von der Thomas Mann-Figur Julia Wolff gleich im Schneegestöber, aus dem Schnee-Kapitel in der Mitte der tausend Seiten. In der Folge jedoch sorgt die weise Erzählerin für die Chronologie der siebenjährigen Gedankenreise am Ort, und sie informiert das Publikum immer weiter über aktuelle Uhrzeit und Kapitel- oder Seitenzahl der Szene.
Gesetzt statt entwickelt
Henri Hüsters Inszenierung konzentriert sich also auf die Entwicklung der Hauptfigur, eine Illustration der Gesellschaft von Kranken und Doktoren findet kaum statt. Nora Krohms krankheitsversessener Dr. Krokowski wirkt gleich wie ein schmieriger Zirkusdirektor oder ein Zauberer. Drei Mitspieler:innen sind aus Mitgliedern des inklusiven Ensembles besetzt, sie spielen souverän. Aline Blum etwa gibt die Geliebte Clawdia Chauchat als ruhige, eher sachliche Femme Fatale im roten Hosenanzug (Kostüme und Bühne: Hanna Rode). Auch das übrige Ensemble spielt überzeugend auf. Dennoch bleibt der selig verfluchte Aufenthaltsort, der Glanz und Elend körperlicher Gebrechen, das Pendeln zwischen Tod und geistig ambitionierten Ausbrüchen bei einem eher normalen Menschen durchspielt, in der Wuppertaler Inszenierung eher behauptet. Alles ist von Beginn an klar: Der Schnee rieselt reichlich, auch mal in schwarz, die Bühne dreht sich als Schicksalsrad, die Musikeinspielungen (Florentini Berger-Monit, Johannes Wernicke) unterstreichen so sensibel wie eindrücklich das Schicksalhafte des Aufenthalts in der dünnen Höhenluft. Zeit zur Entwicklung im schönen Elend bleibt wenig.
Solide genialisch
Und doch gelingt es im Laufe der drei Stunden Rebekka Biener zunehmend die Hauptfigur als einen Menschen zu zeigen, der sich bei aller Normalität zum Freund des genialisch Morbiden wandelt. Aus verhaltener Begeisterung für den fremden Ort wird eine innere Verbundenheit mit dem immer wieder apostrophierten „Genialen“. Vielleicht ist ja gerade das Theater der passende Ort, solche seltsamen Ausflüge zu zelebrieren. Das Wuppertaler Theater empfiehlt sich mit seinem „Zauberberg“ als Ort des Spiels um Zeit, Zeitenwende. Das ist ambitioniert und dabei so solide, dass auch ein Großteil des Abonnenten-Publikums der zweiten Vorstellung sich darauf gerne einließ.