Foto: Opernchor des Staatstheaters Kassel, Andrés Felipe Agudelo (Andres), Filippo Bettoschi (Wozzeck) und Staatsorchester im Staatstheater Kassel © Nils Klinger/Staatstheater Kassel
Text:Roberto Becker, am 25. September 2021
Alban Bergs „Wozzeck“ ist ein Gesamtkunstwerk der besonderen Art. Nicht nur, weil das Aufeinandertreffen von Georg Büchners genialem Dramenfragment aus dem Jahre 1837 (das erst im Jahr 1879 erschien) und Bergs Musik von 1925 in einem musiktheatralischen Schlüsselwerk der Moderne so helle Funken schlägt, dass davon per se auch beklemmende Schattenseiten des Lebens von heute erhellt werden. Und zwar so, dass man tatsächlich in den Abgrund Mensch schaut, wie Wozzeck, der vielem auf der Spur zu sein glaubt, in seiner naiven Hellsichtigkeit sagt. Bei aller herausfordernden Modernität dieses Dreiakters liefert besonders diese enge Verbindung von Text und Musik den entscheidenden Rückenwind, um „Wozzeck“ als ein Stück Oper für die Gegenwart zu begreifen.
Der geschundene Mensch, der gegen die Verhältnisse ankämpft, sich zum Versuchskaninchen eines überdrehten Mediziners machen lässt, um für Marie und seinen unehelichen Sohn zu sorgen, den er nicht mal anzusehen vermag. Wozzeck ist ein Mann, der den Spott des Hauptmanns erträgt und doch eine Ahnung von der Welt hat, weil er mehr weiß (oder besser ahnt und fühlt) von jenem Abgrund Mensch, als die beiden Widersacher über ihm sich träumen lassen. Auf der anderen Seite ist da die unbedingte Lebenslust und -gier von Marie, die sich mit dem Tambourmajor einlässt, sich dabei wie ein „schlecht Mensch“ fühlt, aber doch nicht anders kann. Als Wozzeck das Gefühl hat, dass ihm auch dieser Teil seines Lebens noch abhandenkommt, wird er schließlich zum Mörder und Selbstmörder. Filippo Bettoschi verkörpert dieses Zerrissene und Gehetzte stimmlich und darstellerisch durchweg überzeugend.
Beeindruckende Raumbühne
„Wozzeck“ ist an sich schon beklemmendes, packend überwältigendes Musiktheater. Zumal wenn es so exzellent musiziert und gesungen wird wie derzeit am Staatstheater Kassel. Aber Florian Lutz und sein schon in Halle als Raumbühnenerfinder bekannt gewordener und aktueller Hausszenograf Sebastian Hannak (dazu gehört noch Mechthild Feuerstein für die Kostüme) verschaffen dem noch eine zusätzliche Dimension. Sie reißen nicht nur die sprichwörtliche vierte Wand nieder, indem sie die Bühne für die Zuschauer öffnen und einen Teil von ihnen – wie in einem Logentheater – in mehreren Ebenen auf Baugerüsten auch an den Wänden des Bühnenraumes herum platzieren. Von dort aus könnte einem beim Blick in die Höhe des Schnürbodens über den Köpfen oder in der Tiefe auf das Orchester und die auch im Parkett verteilten Zuschauer tatsächlich (ähnlich wie Wozzeck) schwindlig werden. Es ist eine Gerüstkonstruktion, die selbst schon eine Hauptattraktion des Abends ist und die die Größe des Theaters im doppelten Wortsinn ausmisst und nutzt. Das fabelhafte Staatsorchester Kassel unter Leitung seines Generalmusikdirektors Francesco Angelico ist da platziert, wo normalerweise gespielt wird: auf der Bühne. Die Zuschauer auf den Plätzen über dem Orchester haben musikalisch den Hauptgewinn des Abends!
Auf vier Spielflächen und einem Laufsteg über dem Orchester in schwindelnder Höhe riskiert Florian Lutz den direkten Gegenwartstest für diese Oper – ein Zugang, der bislang noch jede seiner Inszenierungen geprägt hat. In der Tiefe der linken Seitenbühne befindet sich ein Lager, in dem der uniformierte Wozzeck einen tristen und offenbar schlecht bezahlten Verpackungsjob verrichtet. Offensichtlich wird hier ein Powerdrink versandfertig verpackt, der begleitet von einer groß aufgezogenen Vermarktungswelle unter die Leute gebracht werden soll. Der Tambourmajor ist hier der smarte Posterboy der Kampagne, wozu Frederick Ballentine seine geschmeidige Stimme und seinen durchtrainierten Body einsetzt und so nicht nur bei der potenziellen Kundschaft, sondern auch bei Marie einen durchschlagenden Erfolg hat.
Wozzecks Zweitjob befindet sich gegenüber auf der rechten Seitenbühne in der Praxis des Doktors (Magnus Piontek). Marie (so sinnlich wie eloquent und darstellerisch überzeugend: Margrethe Fredheim) und ihr Kind haben eine mit ausgesuchter Geschmacklosigkeit ausgestattete Wohnung auf einer erhöhten Plattform im Rücken des Orchesters. Und das Wirtshaus, dessen Trubel Wozzeck ein Gräuel ist, befindet sich auf der Vorderbühne. Die beiden Handwerksburschen (Michael Tews und Ilyeol Park) haben sich hier offensichtlich für eine Travestieshow aufgebrezelt. Der Hauptmann (Arnold Bezuyen) agiert zusätzlich in der Rolle eines Conférenciers für pseudodemokratische Start-ups.
Mitbestimmung des Publikums
Das Publikum darf bei drei Unterbrechungen der Musik abstimmen über Gesetze zum Thema Gesundheit, Kontaktvermeidung und Gewaltprävention, die in der schlichten Gute-Laune-Sprache von Ex-Ministerin und Vielleicht-Berliner-Bürgermeisterin Franziska Giffey „Das Beste-Ernährungs-Gesetz“, „Das Sichere-Kontakte-Gesetz“ und „Das Sichere-Deutschland-Gesetz“ heißen und bei denen schon das Überfliegen der kurz eingeblendeten Erläuterungen das Potenzial hat, Angst vor der eigenen Zukunft zu erzeugen. Der Gegenwartsbezug wäre zwar auch ohne diese Beklemmende-Erkenntnis-Zusätze gewährleistet. Im Sinne eines umfassenden Theatererlebnisses aber ist diese assoziative Öffnung in die unmittelbare Wahl- und Kulturkampfgegenwart durchaus ein Gewinn.
Dieses wortwörtliche Eintauchen in das Stück hat natürlich auch seinen Preis: Der Blick auf das Ganze bleibt dabei ab und an auf der Strecke – man könnte sagen, dass das im Theater nicht anders ist als in der Realität. Die von zwei Kameraleuten live produzierten Bilder gleichen die Sichteinschränkungen aber aus. So wird ein Teil des Geschehens auf die Großleinwände in der Höhe übertragen.
Viel Applaus für Intendantenstart
Dass sich am Ende die Bühnengegenwart von den Leinwandbildern abkoppelt, macht die Tragik der Geschichte nicht wirklich besser. Nur auf dem Bildschirm sehen wir den blutverschmierten Wozzeck und die ermordete Marie. Real kehrt Wozzeck aber an seinen Arbeitsplatz zurück. Sein Junge flieht in andere Wohnung vor eine andere Playstation – ohne, dass sich seine Aussichten verbessern.
Auch wenn man so nicht direkt in den Abgrund Mensch blickt, ist er da.
In Kassel wurde ein packender Auftakt für die Spielzeit und die neue Intendanz einhellig bejubelt.