Diese Sprache scheint nicht unbedingt für das Theater geschaffen. Es muss sie kneten, sie aufbrechen, sie sich gefügig machen. Anlässlich der Uraufführung von Kehlmanns jüngstem Roman „Tyll“ hat Stefan Bachmann bewusst das Gegenteil getan. Er stellt die Eigenheiten dieses Umgangs mit Sprache aus. Wenn davon gesprochen wird, dass jemand die Arme ausbreitet, breitet ein Schauspieler auf der Bühne die Arme aus. Warum, erfährt man, wenn der Text eine Begründung nachschiebt. In der zweiten Szene, „Herr der Luft“, wird Tyll als Junge mit einem Esel im Wald zurückgelassen und dreht durch vor Angst, tötet den Esel und zerstört die von ihm bewachte Mehlladung, was seinen Vater, den Müller, ins wirtschaftliche Elend stürzt. Tyll und der Esel sind allein auf der Bühne. Tyll erzählt von seinen Ängsten, verdoppelt diese exakt gestisch und geht mit dem Esel ab. Der Vater kommt am nächsten Tag und erzählt, was er vorfindet. Die Nacht, die den Protagonisten dauerhaft traumatisiert, kommt also nur in Worten vor, wird nicht durch Spiel, durch Interaktion verlebendigt und beglaubigt. An diese Art von Theater scheinen Bachmann und sein Bearbeiter Julian Pörksen nicht (mehr) zu glauben. So lassen sie auch Peter Miklusz in der Titelrolle nicht Zentrum dieses Abends werden. Weil er statisch bleiben muss, ein wie Batmans Joker geschminkter wutschnaubender Nihilist und Leidensdämon. Weil die geistige und körperliche Wendigkeit, die seine Faszination ausmacht wie seinen Mythos, sprachliche Behauptung bleibt.
Und weil alle theatralen Mittel zur Distanzierung eingesetzt werden. Die Bühne von Olaf Altmann: Eine rechteckige Wasserfläche. Sie bietet keine Orientierungspunkte. Man kann sich in ihr nur langsam und künstlich bewegen. Die Kostüme von Jana Findeklee und Joki Tewes: Merkwürdig plump historisierend, irgendwo zwischen Provinzfreilichtbühne und TV-Historiengemälde. Sie stellen sich vor die Figuren, statt sie bloß zu legen. Der gleichmütig vor sich hin knisternde, Stille vermeidende synthetische Geräuschsoundtrack von Gajek. Wenn der laut wird, wissen wir: Aha, Schlacht. Dazu Hartmut Litzingers brillantes Licht, das seinen eigenen Vorstellungen von Schönheit nachstrebt, nicht einmal erfolglos. Und die zehn Schauspieler müssen ihre 38 Figuren im nahezu identischen Sprechduktus durch den fast vierstündigen Abend führen, in einer Art im Tempo minimal variierter gemächlicher Atemlosigkeit. So poltern etliche von Kehlmanns hübschen Pointen erdenschwer zu Boden.
Was bleibt, ist der Stoff. Kehlmanns gut recherchiertes, groß angelegtes Panorama des 30-jährigen Krieges vermag in vielen Momenten zu interessieren, auch wenn es wirkt, als hätten Pörksen und Bachmann die von ihnen ausgewählten Szenen einfach aus dem Gesamtgebilde herausgestanzt. Kontinuität stellt sich kaum je her. Die erzählerischen Linien sind voller Lücken. Nicht nur deshalb ertrinken die Schauspieler in den dividualisierenden Textmassen, voran Melanie Kretschmann, die als Elisabeth Stuart, die Frau des Winterkönigs – in der Bühnenfassung mehr noch als im Roman eine zweite Protagonistin – durchgängig statuarisch hohl herumtönen muss. Wunderbarerweise gibt es hier zwei Ausnahmen: Kristin Steffen haucht Tylls Freundin und Leidensgenossin Nele echtes Leben ein. Sie leidet, lacht, streitet, tanzt spontan und glaubwürdig. Sie spricht uns an. Und Simon Kirsch schafft es, wirklich Figuren zu erfinden und diese, auch sprachlich, gegeneinander abzusetzen. Sein Abt ist ganz gesichtslose, sonore Klage. Sein aufgesteifter Athanasius Kircher, hochgebildeter Gelehrter, größenwahnsinniger Wirrkopf und Genie der Selbstvermarktung reizt uns dazu, über den Kerl mal was nachzulesen. Und sein kaiserlicher Botschafter in der Schlussszene kommt ganz leicht gerührt daher, wie in einer altmodisch-eleganten Konversationskomödie. Da sind wir dicht bei Daniel Kehlmann. Und noch dichter am Theater.