Das Grimm‘sche Märchen von „Hänsel & Gretel“ wurde vom estnischen Paar Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo in den Bereichen Regie, Bühnenbild, Kostüme sowie Video gründlich nachbearbeitet. Deren Neudeutung mutiert zur platten Kritik an der Wohlstandsgesellschaft: Nicht an Hunger, sondern an fehlender Zuwendung leiden die Kinder, die mit Schuppenflechte und Pockennarben ihren Eltern hässlich ähnlich sehen.
Was vom Märchen übrig blieb: Der Vater führt die nicht ganz ahnungslosen Kinder am nächsten Morgen in den Wald, und zwar so tief, dass sie Gefahr laufen, einem Phantom zu begegnen. Das nimmt in der Person von Rammstein-Sänger Till Lindemann Gestalt an. Der indes durfte sich schon zu Hause schminken und gibt seine Fünf-Ton-Balladen vor Baumkulisse nur per Filmsequenz dazu. Das passt insofern, als dass auch das Live-Spiel um zeitgleiche Projektionen und vorproduzierte Videos ergänzt wird.
Das Geschwisterpaar gerät alsdann vom heimatlichen Wohn-Waggon zum baugleichen Modell der Hexe; Björn Meyer verkörpert die Figur fett, androgyn und gut. Zwischen Burgern, Sahnetorten, Donuts, Würsten und weiterem Junk-Food entwickelt sich eine Fress-Orgie, die schon besser inszeniert wurde; auch Till Lindemann beim Kotzen zuzusehen, fügt dem Abend keine neue Dimension hinzu. Schließlich soll der debile Hänsel vom Hexer doppeldeutig vernascht werden, doch dank Gretels Wachsamkeit – sie fand zwischenzeitlich als Putzkraft auf dem kulinarischen Schlachtfeld Verwendung – landet das schrille Böse im begehbaren E-Herd.
Was dann folgt, ist die eigentliche Verirrung im Theater-Wald: Gretel wird in einen Stein verwandelt. Als Lohn für die Rettung? Oder weil ihr Bruder sich nicht genug kümmerte, wie der Märchen-Onkel Till aus dem Off erzählt? Derweil wird Hänsels Herz bei lebendigem Leib entnommen und vom Phantom über einem offenen Feuer geröstet…
Über märchenhaft verschlungene und entsprechend unschlüssige Wege landen die beiden Kinder – Hänsel nackt im Fettanzug und Gretel samt ihrem markanten Überbiss – wieder im himmelblauen Heim am elterlichen Tisch. Erneut ringt sich die Mutter ein künstliches Lächeln ab, das in ein Horrorfilm-Lachen kippt. Die 160-minütige, durch eine Pause geteilte Uraufführung sorgte im Thalia Theater für reichlich Langeweile, musikalischen Kitsch, Respekt vor der Arbeit einer Maskenbildnerin und viel Applaus – von mindestens zwei Fangemeinden im Publikum.